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H.-J. Möller, G. Laux, H.-P. Kapfhammer (Hrsg.):
PSYCHIATRIE UND PSYCHOTHERAPIE
Band 1: Allgemeine Psychiatrie – Band 2: Spezielle Psychiatrie
Springer Medizin Verlag, Heidelberg 2008. 2.494 S., 476 Abb., 413 Tab., € 199,95.
ISBN: 978-3-540-24583-4

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13 Pfund hat jetzt die 3. vollständig neu bearbeitete und aktualisierte Auflage der Psychiatrie und Psychotherapie in den zwei Bänden Allgemeine bzw. Spezielle Psychiatrie im Schuber. Damit führt dieses Standardwerk schon einmal physikalisch die Spitzen-Position psychiatrischer Lehrbücher an. Aber auch inhaltlich werden hier die Maßstäbe gesetzt. Das war schon das Ziel der 1. Auflage, das hat sich bis heute nicht geändert, eher noch gefestigt, dafür sorgen schon die drei in puncto Lehrbüchern versierten Herausgeber und 100 Kapitel-Autoren.

Natürlich kann man sich fragen, welcher Vorteil bzw. Fortschritt in der Existenz von inzwischen mehr als drei Dutzend Lehrbüchern und welchen Sinn und Zweck eine solche, man kann schon sagen gigantische Fülle von Fach-Informationen haben soll. Wer aber schon länger nervenärztlich bzw. psychiatrisch tätig ist, den erfüllt diese Entwicklung mit einigem Stolz und vor allem auch diagnotistischer und therapeutischer Sicherheit im Alltag. „Ältere Semester“ erinnern sich noch gut an die verdrießliche kleine Disziplin „Psychiatrie“ vor wenigen Jahrzehnten, ein so genanntes 1-Punkte-Fach im Staatsexamen, auf das man sich in den anstrengenden Examens-Monaten nur kurz vorher einlas, um mehr Zeit für die „großen Fächer“ verfügbar zu haben. Und sie erinnern sich an die bestenfalls freundlich-begütigenden, meist aber ein wenig abschätzigen Kommentare der „Organ-Mediziner“, die sich nicht wesentlich von denen unterschieden, die es halt nicht besser wissen konnten (wobei man bei allen einen doch heimlichen Respekt vor diesem letztlich „unheimlichen Metier“ zu spüren glaubte).

Inzwischen hat sich vieles geändert. Die großen Fächer sind noch immer groß, aber nicht alle haben jene Position halten können, die heute die Entscheidende zu sein scheint: gemeint ist die volkswirtschaftliche Belastung eines Krankheitsbildes, also Herz-Kreislauf, Wirbelsäule-Gelenke, Magen-Darm, Hals-Nasen-Ohren u. a. Hier hat sich nämlich etwas entwickelt, was auch in der Medizin noch nicht völlig realisiert zu werden scheint – noch nicht. Dabei mögen die körperlichen Leiden durchaus gleich geblieben sein, die seelischen mit psychosozialen Konsequenzen schieben sich aber unerbittlich in den Vordergrund. Und so gibt es weltweit operierende und dominierende Institutionen, die sich mit der „wirtschaftlichen Krankheits-Last“ medizinischer Leiden beschäftigen und siehe: Die Psychiatrie spielt inzwischen eine Rolle, die sie selber wohl noch nicht so richtig akzeptiert zu haben scheint. Denn dies heißt ja auch die zunehmende Aufgaben-Last adäquat zu schultern.

Schon vor Jahren ergaben entsprechende Hochrechnungen, dass unter den 10 wichtigsten (und damit volkswirtschaftlich bedeutsamsten) Erkrankungen die ersten Plätze seelische Leiden einnehmen (z. B. Depression, Alkoholismus, Schizophrenie, Demenz bzw. andere degenerative Erkrankungen u. a.). Und bei den folgenden organischen Leiden auf den nächsten Plätzen (z. B. Osteoarthritis, Gehirngefäß-Erkrankungen, Lungenleiden, Diabetes mellitus, Unfallfolgen u. a.) kann man sich die psychosozialen Konsequenzen auch gut vorstellen. Mit anderen Worten: Es führt kein Weg an der Erkenntnis vorbei: Die Zukunft gehört der kranken Seele, ob wir das akzeptieren (wollen, können, dürfen) – oder nicht.

Das heißt aber auch – und jetzt kommen wir zur Buchbesprechung zurück –, dass die Psychiater sich einer Aufgabe stellen müssen, die vor wenigen Jahrzehnten noch nicht vorhersehbar war. Und nicht nur die Psychiater, auch die klinischen Psychologen, psychotherapeutisch Tätigen jeglicher Berufsgruppe, ja nicht wenige medizinische Disziplinen, in denen seelische Einflüsse einen nachhaltigen und bisher leider weitgehend unbeachteten Einfluss ausüben – mit vor allem nachhaltigen Folgen für die Therapie (eigentlich dann multiprofessionell anzusetzen) und Prognose (Heilungsaussichten). Und damit – nebenbei und wiederholt gesagt – mit volkswirtschaftlichen Konsequenzen. Diese kann man zwar als für den Heilberuf nicht „zuständig“ und schon gar nicht bedeutsam in Abrede stellen, doch es ist die Administration, die die verfügbaren Gelder verteilt und damit auch den Gesundheits-Standard bestimmt.

Es muss also etwas geschehen und das tut es auch. Auf allen Ebenen wird diese Aufgabe diagnostisch, differentialdiagnostisch (was könnte es sonst noch sein, ggf. also auch Multimorbidität = Mehrfach-Erkrankungen), therapeutisch, rehabilitativ und vor allem präventiv (vorbeugend) ernst genommen. Rückgrat dieser Bemühungen sind und bleiben Fachbücher. Fortbildungsangebote in jeglicher Form (Referate, Kurse, Seminare) sind nützlich, das Internet beginnt sich langsam als um Seriosität bemühtes Angebot zu etablieren (man muss halt lernen, die Spreu vom Weizen zu trennen), doch Fachbücher sind und bleiben erste Aus-, Weiter- und Fortbildungs-Wahl. Und da das Wissen explodiert (einschließlich natürlich viel Rauch bzw. Lärm um nichts, das ist überall gleich, legt sich aber im Laufe der Prüfungszeit im ärztlichen Alltag), werden auch die Bücher dicker (s. o.).

Einige psychiatrische Lehrbücher der neueren Auflagen lehnen sich (leider oft ein wenig phantasielos) an das Grundlagen-Gerüst der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen – ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und ihrer mächtigen (Konkurrenz-)Schwester, dem Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen – DSM-III-TR der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (APA) an. Einige (leider derzeit noch in der Minderzahl befindlich, früher war es umgekehrt) leben aus dem Alltag von Klinik und Praxis und lassen die Klassifikationen lediglich in Kasten-Stichworten mitlaufen. Einige sind so groß konzipiert, dass sie beides befriedigend rüberbringen.

Zu Letzterem gehört die Psychiatrie und Psychotherapie in zwei Bänden und 3. Auflage. Es ist den Herausgebern zu danken, dass sie ihre Spezialisten didaktisch und stilistisch an der kurzen Leine hielten und auch die zahlreichen Tabellen, Abbildungen und typographischen Elemente in vernünftigem Maße positionierten. Kurz: Die Lesefreundlichkeit ist gewahrt, soweit man das von einem so umfangreichen Lehrbuch erwarten kann.

Inhaltlich wurde – wie erwähnt – praktisch alles überarbeitet, und zwar nicht nur was die epidemiologischen und sozioökonomischen Daten anbelangt (z. B. Häufigkeit und Verteilung in der Bevölkerung), sondern auch neue genetische (Erb-)Befunde, das faszinierende Gebiet der Bildgebung im Bereich des Zentralen Nervensystems, die Weiterentwicklung in der Psychopharmakotherapie und neuere, so genannte störungs-spezifische (also spezialisierte) Psychotherapieverfahren.

Was macht aber ein modernes Lehrbuch so voluminös? Es sind Fragen bzw. Themen, auf die man vielleicht (noch) verzichten könnte, aber eben nur noch zeitlich begrenzt. Was sich ein alter Nervenarzt (wir müssen immer wieder auf diesen Generationen-Vergleich zurückkommen) heute alles anhören, vor allem aber merken müsste, er würde resignieren. Denn 10 bis 12 Stunden Patienten (früher, heute dürfte das de facto auch nicht anders sein) sind eben nur 10 bis 12 verfügbare Stunden. Und wenn man administrativ immer mehr absorbiert wird, bleibt immer weniger für den, für den man eigentlich da sein sollte: der Patient. Gleichwohl, manches dient ja auch den Kranken, wenn vorerst einmal indirekt. Dazu gehören integrierte Versorgungs-Aspekte, die so genanten Evidenz-Basierung (schlicht gesprochen: was ist bewiesen, belegt, hat sich wirklich bewährt?), die so genannte Leitlinien-gestützte Therapie (was sagen die Fachgesellschaften, was man tun oder lassen sollte?), das Qualitätsmanagement (hat inzwischen auch die Medizin voll und ganz im Griff) und – man höre, staune und freue sich, es bleibt also noch die medizinische Front-Nähe gewahrt –, „neue“ Krankheitsbilder, die natürlich fast alle so alt sind wie die Menschheit, aber erst jetzt in das Blickfeld von Diagnose und Therapie rücken. Beispiele: psychische Störungen bei körperlichen Erkrankungen, Nikotin-Abhängigkeit, das Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) im Erwachsenenalter(!), frauenspezifische Störungen (wofür es inzwischen auch eine wachsende eigene Fachliteratur gibt), Psychopharmakotherapie in Schwangerschaft und Stillzeit und – notgedrungen – juristische Aspekte von Aufklärung und Dokumentation und die Frage der Fahrtüchtigkeit.

Die Literatur ist englisch-lastig (was nicht anders zu erwarten ist und schon auch seine inhaltlichen Vorteile hat), das Stichwortverzeichnis angemessen (Schaufenster eines jeden Fachbuches: 20 kleingedruckte Seiten). Außerdem gibt es eine Psychiatrische Karte, die alle (leider nicht durchgehend lesbare) Fachkliniken in Deutschland enthält (durch das Internet ergänzbar); ferner die Adressen der wichtigsten Fachgesellschaften, Dachverbände, Selbsthilfe- und Angehörigengruppen sowie Auszüge wichtiger Gesetze (z. B. Schuldfähigkeit, Unterbringung, Geschäftsunfähigkeit, Betreuung, Heilbehandlung, Testierfähigkeit u. a.). Dazu ein Verzeichnis wichtiger Fremd- und Selbstbeurteilungsskalen, die bedeutsamsten Fachzeitschriften des psychiatrisch-psychotherapeutischen Gebiets und eine aktuelle Psychopharmaka-Übersicht.

Ein Werk, das Maßstäbe setzt, heißt es auf dem Rück-Einband. Das ist richtig. 100 Autoren in 82 Kapiteln bieten (angehenden) Fachärzten für Psychiatrie und Psychotherapie sowie Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, für Psychologische Therapeuten, klinische Psychologen und – mit ärztlicher Unterstützung – sogar interessierten Laien mit psychiatrischen Berührungspunkten in ihrem Berufs-Alltag alles, was man über die nun schon mehrfach erwähnte kranke Seele zu wissen hat. Und es ist gut, sich ihrer anzunehmen; denn es sieht nicht danach aus, als ob dieser „psychiatrische Trend“ zur Ruhe käme. Man muss sich als wappnen. Die gedruckten Voraussetzungen dafür liegen vor (VF).

Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise.
Bei persönlichen Anliegen fragen Sie bitte Ihren Arzt.
Beachten Sie deshalb bitte auch unseren Haftungsausschluss (s. Impressum).