AKUTE SEELISCHE ERKRANKUNGEN IM HÖHEREN LEBENSALTER

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Delir – Demenz – Gemütsstörungen – Suizidgefahr – psychotische Störungen – Angststörungen – Suchtkrankheiten – besondere Problemsituationen: Verwahrlosung, Misshandlung u. a.

Wir werden immer älter, aber das hat seinen Preis: seelisch, geistig, körperlich und psychosozial. Am häufigsten hören und lesen wir über chronische Alters-Leiden. Das ist nachvollziehbar, darunter leiden die meisten. Weitgehend ausgeblendet bleiben dagegen akute psychische Erkrankungen bis hin zum psychiatrischen Notfall im höheren Lebensalter. Was versteht man darunter?

Zum Beispiel das Delir, von dem wir meist annehmen, es sei die Folge von Alkoholismus, und wenn der nicht vorliege, müsse man sich über dieses Krankheitsbild keine Gedanken machen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Ein Delir hat viele Ursachen, besonders im so genannten dritten und vierten Lebensalter. Und die meisten Delirien werden erst einmal verkannt.

Etwas besser ist der Kenntnisstand über die Demenz, vor allem die Alzheimer‘sche Krankheit. Sie entwickelt sich zwar zumeist schleichend, es gibt aber auch ein akutes Demenz-Syndrom mit risikoreichen Folgen.

Affektive Störungen, also Depressionen, manische Hochstimmungen, in gewissem Grade auch angst-betonte Zustandsbilder sind zwar derzeit in aller Munde, die konkreten Warn- und Alarm-Symptome bis hin zur Suizidgefahr hingegen kaum. Dabei ist letzteres ein ernstes, ja wachsendes Problem im höheren Lebensalter, das immer wieder Fassungslosigkeit zurück lässt – aber ohne die notwendigen Schritte, den entscheidenden Wissensstand aufzubessern.

Zu den besonderen Problemen in dieser Lebensphase gehören auch psychotische Störungen, die nicht nur eine – in dieser Zeit ohnehin seltene – Schizophrenie bedeuten müssen. Offenbar zunehmend, dafür weitgehend ausgeblendet, sind auch Missbrauch und Abhängigkeit der Älteren. Dabei spielen der Alkohol nur eine begrenzte, Nikotin und Rauschgift eine vernachlässigbare Rolle. Dagegen denkt kaum einer an die offenbar wachsende Medikamenten-Abhängigkeit im höheren Lebensalter. Sie betrifft vor allem Beruhigungs- und Schlafmittel und hat mehr (ahnungslose?) Opfer im Griff, als man glaubt.

Zuletzt ist noch an einen Akut-Bereich im Seelischen und Psychosozialen zu denken, an den wir nur in Extremfällen erinnert werden. Der ist sogar bedenklich häufig, nur die Dunkelziffer hält uns ahnungslos. Gemeint sind Verwahrlosung und Misshandlungen im höheren Lebensalter. Hier ist mehr Tragik zu Hause, als offenkundig wird. Beim Thema körperliche Gewalt ist der alte Mensch übrigens nicht nur Opfer, er kann auch einmal zum Täter werden, so sonderbar sich dies anhört (z. B. selber hinfällige pflegende Angehörige).

Facit: Akute psychische Erkrankungen im höheren Lebensalter sind ein schwieriges Kapitel. So ist gerade hier eine fachliche, aber allgemein verständliche Aufklärung dringend notwendig. Daran versucht sich nachfolgendes Kapitel.


Erwähnte Fachbegriffe:

Höheres Lebensalter – drittes Lebensalter – Hochaltrigkeit – Altersleiden – akute psychische Erkrankung im höheren Lebensalter – Notfall-Psychiatrie im höheren Lebensalter – psychiatrischer Notfall im höheren Lebensalter – psy­chische Störungen im höheren Lebensalter – Multi-Morbidität im höheren Lebensalter – Polypragmasie im höheren Lebensalter – Arzneimittel-Neben­wirkungen – Arzneimittel-Wechselwirkungen – Arzneimittel-Interaktionen – Delir – Delirium – Bewusstseinsstörungen – Orientierungsstörungen – Gedächtnisstörungen – inhaltliche Denkstörungen – formale Denkstörungen – Störung des Schlaf-Wach-Rhythmus – illusionäre Verkennungen – Halluzinationen – Sinnestäuschungen – Trugwahrnehmungen – optische Halluzinationen – akustische Halluzinationen – haptische Halluzinationen – olfaktorische Halluzinationen – vegetative Störungen (Schwitzen, Zittern, Herzrasen) – Erinnerungslosigkeit – Amnesie – Apathie – Teilnahmslosigkeit – „staunende Ratlosigkeit“ – Euphorie – inhaltsloses Glücksgefühl – postoperatives Delir – Bewusstseinstrübung – Schläfrigkeit – Benommenheit – „Geistesabwesenheit“ – „Verhangenheit“ – „stilles Delir“ – Delir-Komplikationen: Stürze, Geschwüre, Infektionen, Inkontinenz, Sedierung, Ernährungsstörungen – Delir-Ursachen – medikamenten-bedingtes Delir – medikamentöses Delir – Medikamenten-Mehrfach-Verordnung – Medikamenten-Selbstbehandlung – Delir-Risiko­faktoren – Delir-Auslöser – Delir-Symptome – Delir-Untersuchungsverfahren – Delir-Hinweise – Delir-Demenz-Unterscheidung – Delir-Differentialdiagnose – Delir-Behandlung – Psychoedukation – Delir-Betreuungs-Programme – Delir-Rückfallvermeidung – Demenz – Alzheimer–Demenz – primär-degenerative Demenz – vaskuläre Demenz – Demenz-Definition – akute Demenz – Demenz-Verhalten – Verhaltens-Störungen bei Demenz – Demenz-Auslöser – Demenz-Ursachen – Exsikkose – Austrocknung – (psycho-)motorische Unruhe – Schlaf-Wach-Rhythmus-Umkehrung – körperliche Störungen bei Demenz – Überforderung bei Demenz – Demenz-Therapie – Angehörigen-Schutz bei Demenz – Angehörigen-Unterstützung bei Demenz – Angehörigen-Hilfe bei Demenz – affektive Störung – Depressionen – manische Hochstimmung – Depressions-Beschwerdebild – Anpassungsstörungen – organische depressive Störungen – körperliche Ursachen von Alters-Depressionen – Diagnose der Alters-Depression – Differentialdiagnose der Alters-Depression – Suizidalität im höheren Lebensalter – suizial motivierte passive Selbstgefährdung – Bilanz-Suizid im Alter – prä-suizidales Syndrom im Alter – Suizid-Hinweise im Alter – Suizid-Gefahr im Alter – Suizid-Vorbeugung im Alter – suizidgefährliche Krankheitsbilder – psychotische Störungen im Alter – Schizophrenie im Alter – schizophreniforme Psychosen im Alter – schizophrenie-ähnliche Symptome im Alter – Charles-Bonnet-Syndrom – wahnhafte Störungen im Alter – Beeinträchtigungswahn – Verfolgungswahn – Alters-Paraphrenie – Kontaktmangel-Paranoid – Neuroleptika im Alter – Antidepressiva im Alter – Tranquilizer im Alter – Sucht im Alter – Substanz-Missbrauch im Alter – Substanz-Abhän­gigkeit im Alter – Alkoholismus im Alter – Medikamenten-Abhängigkeit im Alter – Niedrig-Dosis-Abhängigkeit im Alter – Entzugs-Symptome im Alter – Angststörungen im Alter – Phobien im Alter – Panikattacken im Alter – generalisierte Angststörungen im Alter – Angst-Depression im Alter – Verwahrlosung im Alter – Misshandlungen im Alter – u.a.m.

Die Menschen werden immer älter und damit immer kränker, lautet ein oft gehörter Seufzer. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Dass wir immer älter werden, nimmt jeder gerne hin – sofern er halbwegs gesund bleiben darf. Wie sagte schon der römische Senator Cato der Ältere: Alle wollen es werden, keiner will es sein: alt. Mit anderen Worten: Den Preis, den die Natur notgedrungen verlangt, den mag keiner zahlen.

Zum anderen hat der Begriff bzw. Zustand „krank“ eine große Bandbreite. Das geht von erträglichen Beeinträchtigungen bis zur nun wirklich höchsten Qual. Letzteres ist glücklicherweise selten. Hier hilft uns die Medizin in einer Weise, die sich unsere Vorfahren nicht erträumen durften. Der Fortschritt und Gewinn ist also doppelt: Wir werden älter und bekommen umfassende und zugleich gezielte Hilfe, wenn ein gesundheitlicher Preis ansteht. Dabei muss nun schon auch klar sein, dass wir inzwischen selbst für leichtere Beeinträchtigungen medizinische Unterstützung einfordern und erhalten, die alle Generationen vor uns ohne jegliche Hilfe durchstehen mussten. (Natürlich hat hier die Medizin auch einen gewissen Schuld-Anteil, ausgedrückt durch den ironischen Satz: „Gesund ist schlecht untersucht ...“)

Und schließlich ein dritter Punkt: Wenn wir das „dritte Lebensalter“ (zu dem inzwischen sogar ein viertes kommt, nämlich die Hochaltrigen) mit einer wachsenden Zahl von Beschwerden und Krankheiten gleichsetzen, dann sollten wir uns eines Missverhältnisses bewusst werden, das die Situation zumindest zusätzlich verzerrt: Was uns beschäftigt, selber, im Verwandten- und Bekanntenkreis, sind vor allem die Klagen der Betroffenen und ihrer Angehörigen, die uns beunruhigen und die im Gedächtnis haften bleiben, das Gesamtbild verzerrend. Diejenigen aber, denen es „den Umständen entsprechend gut, zumindest aber befriedigend geht“, die bleiben uns weit weniger im Gedächtnis, obgleich sie wahrscheinlich die Mehrheit bilden. Kurz: Letztlich geht es uns gut.

Gleichwohl: Jedes Alter hat seine Vorzüge und Nachteile, das ist nicht bestreitbar. Am schwerwiegendsten in jedem Alter sind allerdings die chronischen Leiden, die über eine lange Zeit, vielleicht sogar bis zum Rest des Lebens zermürben. Über sie hört man am meisten, über sie gibt es die größte Zahl von wissenschaftlichen und populär-medizinischen Abhandlungen, für sie interessieren sich die Medien am ehesten (zumal sie volkswirtschaftlich auch am aufwändigsten sind, wie uns die Wirtschafts-Experten vorrechnen). Das ist auch gut so.

Was wir aber nicht vergessen sollten, sind akute Erkrankungen. Sie lassen in jungen Jahren und im mittleren Lebensalter am schnellsten die Warnlampen aufblinken. Deshalb sind sie mit den heutigen medizinischen Möglichkeiten in der Regel auch am besten zu beherrschen. Das geht von den ersten Warn-Symptomen über Haus- oder gar Notarzt, Krankentransport, Ambulanz oder Intensiv-Station bis zur gezielten Nachbetreuung – geradezu perfekt, wie nie zuvor (obgleich jeder Ausnahmen zu kennen meint, aber das sind Ausnahmen, zumindest in unseren Breiten, das sollten wir schon eingestehen).

Etwas anderes ist es bei akuten psychischen Erkrankungen im höheren Lebensalter. Zwar würde man meinen, hier gelten die gleichen Bedingungen, Regeln und damit Erfolge. Das ist aber nicht (immer) so. Und zwar nicht wegen der erwähnten medizinischen und technischen Voraussetzungen (s. o.), sondern wegen der Betroffenen selber: Einerseits wegen der im Alter sich häufig ändernden Symptome, die eher ungewöhnlich sind und nicht so schnell aufhorchen lassen; andererseits wegen der vielerorts anzutreffenden psychosozialen Bedingungen, insbesondere allein lebender, einsamer, hilfloser, überforderter oder gar verwirrter alter Menschen. An was ist also zu denken?

Nachfolgend deshalb eine kurz gefasste Übersicht über akute psychische Erkrankungen im höheren Lebensalter von Privatdozent Dr. Walter Hewer, Chefarzt der Abteilung Gerontopsychiatrie und -psychotherapie des Vinzenz von Paul-Hospitals in Rottweil (zugleich einer der beiden Herausgeber – s. u.), mit Unterstützung von Dr. Godehard Stadtmüller von der Adula-Klinik für Psychosomatik Oberstdorf und Professor Dr. Hans Förstl, dem Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Technischen Universität München.

Der Beitrag entstammt dem Sammelband in inzwischen 2. erweiterter Auflage:

Walter Hewer – Wulf Rössler (Hrsg.):
Akute Psychische Erkrankungen
Management und Therapie
Verlag Urban & Fischer, München-Jena 2007. 606 S., 12 Abb., 99 Tab., € 79,95
ISBN: 978-3-437-22880-3

Was schreiben die Experten in ihrem lesenswerten Fachbuch, das zwar vorwiegend für Ärzte aller Fachrichtungen konzipiert ist (in der ersten Auflage auch als „das Notfall-Psychiatrie-Buch“ fingierte), gleichwohl sich in den meisten Kapiteln um eine Lesbarkeit bemüht, die über die Berufsgruppe der Mediziner hinaus geht, wenn man sich entsprechend vorbereitet und mit den dafür notwendigen Lexika ausgerüstet ist. Wichtig ist auf jeden Fall der Überblick und das „Daran-Denken“ in der (ggf. gar nicht so dramatisch erscheinenden) Notfallsituation. Und das soll hier um Allgemeinverständlichkeit bemüht noch einmal zusammengefasst werden

DER PSYCHIATRISCHE NOTFALL IM HÖHEREN LEBENSALTER

Wir hören dauernd, und das sicher mit Genugtuung, dass wir immer älter werden dürfen (s. o.). Damit wächst allerdings auch der Anteil älterer Menschen in der Gesamtbevölkerung. Das hat vielerlei Konsequenzen, über die inzwischen auf allen Ebenen diskutiert wird. An erster Stelle stehen die volkswirtschaftlichen Folgen (jedenfalls wird darüber immer ungehemmter von entsprechender Seite geklagt), an zweiter die psychosozialen Veränderungen, an dritter die körperlichen Erkrankungen und ganz zuletzt die seelischen Leiden. Diese Reihenfolge ist zwar frei empfunden, hat aber etwas für sich, vor allem für die letzte Position. Sie besagt nämlich: An psychische Störungen im höheren Lebensalter wird nur selten gedacht, vor allem rechtzeitig.

Dabei schätzt man, dass – bei Berücksichtigung aller Schweregrade – 10 bis 25 % der über 65-Jährigen psychische Störungen zu ertragen haben. Das sind vor allem Depressionen sowie Demenzen und andere organisch bedingte seelische Krankheiten.

Im Vergleich zu jüngeren Menschen haben psychiatrische Notfälle im höheren Lebensalter häufiger eine körperliche Ursache, mahnen die Experten. Weit mehr als die Hälfte dieser Patienten weisen somatische (organische, körperliche) Begleiterkrankungen auf, häufig im Sinne einer Multimorbidität (also wenn eine Krankheit zur anderen kommt).

Tatsächlich können somatische Erkrankungen in vielfältiger Weise seelische Störungen verursachen, auslösen, verstärken oder gar vortäuschen. Das hieße eigentlich: So früh wie möglich zum Arzt, d. h. als erstes zum Hausarzt und von dort ggf. zum Spezialisten. Doch das wäre der Idealfall, selten genug. Man vermutet, dass die drohenden Akut-Situationen im höheren Lebensalter häufig dadurch entstehen, dass die Patienten aus Scheu, Furcht, Verleugnung des Problems oder Mangel an Einsicht die dafür notwendigen Institutionen zu wenig nutzen. Das wären in psychiatrischer Hinsicht vor allem eben Psychiater oder Nervenärzte (letztere also mit psychiatrischer und neurologischer Ausbildung und Tätigkeit), und zwar entweder in der Praxis oder Ambulanz/Poliklinik.

Die unbehandelten Folgen sind bekannt: Gerade in seelischer Hinsicht entwickelt sich hier ein ungutes Krankheitsbild, das nicht nur Leid verursacht, sondern auch psychosoziale Konsequenzen nach sich zieht, z. B. unübersehbare Verhaltens-Auffälligkeiten. Dies geht schließlich so weit, dass im Extremfall die Angehörigen (manchmal auch Nachbarn oder gar die Polizei) eingreifen müssen – und dann ist der Zustand nicht nur bedrohlich fortgeschritten, sondern hat auch ggf. verheerende Folgen im zwischenmenschlichen Bereich ausgelöst.

Es fehlt also nicht zuletzt die Krankheits-Einsicht, wie man diesen verhängnisvollen Mangel bezeichnet. Am ehesten akzeptieren die alten Patienten noch körperliche Beschwerden und sind nach entsprechender Aufklärung bereit, sich wenigstens auf ein „medizinisches Erklärungs-Modell“ einzulassen, wie die Fachleute beklagen. Das bietet dem Arzt dann wenigstens eine halbwegs geeignete Verhandlungs-Basis, da die Kranken in den meisten Fällen ja ohnehin nicht nur psychiatrisch, sondern auch körperlich gründlich untersucht werden müssen.

Die Medikamenten-Belastung im höheren Lebensalter

Das Ergebnis, nämlich die Diagnose, ist dann meist nicht nur eine, sondern mehrere Diagnosen, teils körperlich, teils seelisch. Das wiederum bedingt eine so genannte Polytherapie. Tatsächlich sind Zahl und Menge der von alten Menschen eingenommenen Medikamente überdurchschnittlich hoch. Davon nimmt etwa einer Viertel dieser Altersgruppe Psychopharmaka ein, also Arzneimittel mit Wirkung auf das Zentrale Nervensystem und damit Seelenleben.

Nun gibt es keine Wirkung ohne Nebenwirkungen und je mehr Medikamente, desto mehr unerwünschte Begleiterscheinungen, wie dies etwas beschönigend genannt wird. Und so ist auch die Rate unerwünschter Arzneimittelwirkungen beim alten Menschen besonders hoch (in etwa acht Prozent der Fälle sogar Grund für eine stationäre Aufnahme in einer Fachabteilung oder -klinik). Dies geht nicht zuletzt auf die Arzneimittel-Interaktionen, d. h. die Wechselwirkungen der verschiedenen Substanzen zurück (d. h. nicht nur Wirkungen können sich unerwünscht verstärken oder nachteilig abschwächen, auch die Nebenwirkungen können sich potenzieren, d.h. vervielfachen).

Die Gerontopsychiater, also die Spezialisten der Seelenheilkunde für das höhere Lebensalter, sind sogar der Ansicht, dass ein nicht geringer Teil jener Patienten, die nicht nur ambulant, sondern auch klinisch behandelt werden müssen, nicht zuletzt als Akutfall, auf solche Medikamenten-Belastungen zurück geht. Das ist übrigens ein besonders schwieriges Kapitel bezüglich Diagnose (was und wodurch), Differentialdiagnose (was könnte es sonst noch sein) und schließlich (Notfall-)Therapie mit anschließend verträglicher Neu-Einstellung der erforderlichen Arzneimittel. Kurz: Die heute verfügbaren Medikamente sind zwar ein Segen, in der Vielzahl ihrer gleichzeitigen Anwendung aber auch ein Problem.

Und ein weiterer Punkt macht zunehmend Schwierigkeiten: Welche Medikamente durch Haus- oder Spezialarzt verschrieben genutzt wurden, lässt sich noch am ehesten feststellen. Doch immer häufiger werden auch frei verkäufliche Substanzen eingenommen, die keinesfalls ohne Risiko sein müssen, selbst wenn sie nicht rezept-pflichtig sind, vor allem bei den erwähnten Arzneimittel-Interaktionen. Und zuletzt machen – ebenfalls zunehmend – eine nicht sachgemäße Medikamenten-Einnahme im Sinne einer Über- bzw. Unter-Medikation zu schaffen. Kurz: Der Patient ist zwar in akuter Not, doch die Ärzte, die diese Krisensituation entschlüsseln sollen, sind es auch. Und dies vor allem im höheren Lebensalter.

Das betrifft körperlich Erkrankte und besonders Patienten mit psychischen Störungen. Gerade Menschen mit so genannten degenerativen Hirn-Erkran­kungen tragen ein ohnehin erhöhtes Risiko für Nebenwirkungen aller Art, d. h. sie sind besonders medikamenten-empfindlich. Und ausgerechnet die erhalten mit am häufigsten höhere Dosen psychoaktiver Substanzen, auf jeden Fall mehr als solche mit so genannten funktionellen psychischen Erkrankungen (also körperlich nicht begründbare seelische Störungen, auch wenn sie einen organischen Leidens-Schwerpunkt haben).

Besonders gefährdet sind übrigens Patienten mit einer Demenz (dem erwähnten hirnorganischen Abbau – s. später), die durch ihre Verwirrtheit, vor allem aber Reizbarkeit und Aggressivität belasten. Und damit Angehörige oder Pflegepersonal in den Heimen, nicht zuletzt auch den behandelnden Arzt förmlich zwingen, die Dosis zu erhöhen – und der Teufelskreis beginnt.

Um was geht es also? Nachfolgend die angekündigte Kurzfassung der Experten D. Hewer, G. Stadtmüller und H. Förstl aus gerontopsychiatrischer Sicht:

DELIR

Der Fachbegriff Delir kommt aus dem lateinischen und hat eine recht lebens-nahe Wortbedeutung, nämlich de lira ire (bäuerliche Redensart): von der „Furche“, d. h. der geraden Linie abweichen; oder ohne Umschweife: herumfaseln, wahnsinnig, irre sein. Im Volksmund bezeichnet Delirium deshalb auch einen Fieberwahn, etwas konkreter eine Bewusstseinstrübung mit Wahnerlebnissen. Delirieren heißt irre reden und ein Delirium tremens ist der Säuferwahn.

In der Medizin geht es leider nicht so direkt und einfach zu. Hier gehört das Delir zwar zu den akuten seelischen Hirnschädigungs-Bildern, auch akute organische psychische Störung genannt, doch es gibt Definitions-Unter­schiede, je nach klassischer deutscher oder beispielsweise US-amerikani­scher Tradition. Einzelheiten würden hier zu weit führen, aber eine kurze Übersicht kann trotzdem nicht schaden:

Das Delir ist durch Störungen der Aufmerksamkeit und des Bewusstseins, der Orientierung und des Gedächtnisses charakterisiert. Außerdem durch inhaltliche und formale Denkstörungen (also was und wie – objektiv falsch – gedacht wird); außerdem durch emotionale (Gemüts-)Symptome wie ängstliche Erregung, motorische (Bewegungs-)Unruhe und eine Störung im Schlaf-Wach-Rhythmus.

In der deutschen Klassifikation kommen dazu noch illusionäre Verkennung (Missdeutung von realen Sinneseindrücken) sowie optische (Gesichts-) und teilweise auch akustische Halluzinationen (vor allem Wahrnehmung nicht vorhandener lauter Geräusche wie Krachen, Trommeln usw.).

Möglich sind auch haptische (Berührungs-)Trugwahrnehmungen mit meist auffälligen Nestel-Bewegungen. Und oft findet man Schwitzen, Zittern, Herzrasen. Nach Abklingen des deliranten Zustandsbildes droht eine Erinnerungslosigkeit, d.h. eine Erinnerings-Lücke für die Zeit dieses Ausnahmezustandes.

Möglich sind im Verlauf eines solchen – in der Regel heftig beeinträchtigenden – Krankheitsbildes auch Depressionen, vor allem aber Angst; damit auch gespannte Unruhe, ja Reizbarkeit, ggf. sogar aggressive Durchbrüche. Andererseits aber auch Apathie (Teilnahmslosigkeit) und häufig das, was man eine „staunende Ratlosigkeit“ nennt. Bisweilen sogar eine Euphorie (ein inhaltsloses Glücksgefühl).

Der Beginn ist akut (plötzlich, nicht nur für den Patienten, sondern auch sein Umfeld mehr oder weniger überfallartig irritierend); der Verlauf wechselhaft. Weitere Einzelheiten siehe die spezifischen Beiträge in dieser Serie. Was muss man nun wissen bei einem

Delir im höheren Lebensalter

Ein Delir im höheren Lebensalter ist – entgegen der allgemeinen Meinung, die meist von einem Alkohol-Delir ausgeht - nicht selten. Nach Untersuchungen in Allgemeinkrankenhäusern sind etwa zehn bis 30 % der stationär behandelten Patienten im höheren Lebensalter bei ihrer Aufnahme von einem Delir betroffen; oder sie entwickeln ein entsprechendes Beschwerdebild im Verlaufe des klinischen Aufenthaltes.

Besonders hoch ist das Risiko für ältere Kranke in der postoperativen Phase, d. h. nach einer Operation. Dabei kommt man auf etwa 25 bis 50% Betroffene. Oder kurz: Vorsicht nach einer Operation, hier kann jeder zweite, zumindest aber jeder vierte Patient entsprechende Symptome entwickeln. Sind sie ausgeprägt, kommt man rasch auf die Diagnose. Sind sie eher dezent oder schwer durchschaubar, wird es schwieriger – und damit für alle Beteiligten komplikationsreicher, ja ggf. folgenschwerer.

Die so genannten Leit-Symptome des Delirs sind eine akut auftretende Trübung des Bewusstseins und Einschränkung der Aufmerksamkeit in Verbindung mit generellen kognitiven (geistigen) Defiziten und einer Störung des Tag-Nacht-Rhythmus.

Der Begriff „Bewusstseinstrübung“ ist nicht mit Schläfrigkeit zu verwechseln. Hier kommt es zu einer stark ausgeprägten Minderung der Wachheit mit Störungen von Aufmerksamkeit, Auffassung, Erinnerungsfähigkeit und vor allem Orientierung (zu Ort und Zeit, ggf. zur eigenen Person).

In Laien-Kreisen wird die Bewusstseinstrübung am ehesten mit den Begriffen „Benommenheit“, „Verhangenheit“ oder „Geistesabwesenheit“ umschrieben, was besonders den Angehörigen auffällt, die den Patienten sonst in ganz anderer Geistes-Verfas­sung kennen.

Während das Delir bei Jüngeren meist mit einer akuten Verhaltensänderung beginnt, die dann auch entsprechend rasch auffällt, ist der Zustand im höheren Lebensalter eher mit Hypoaktivität (also einer Aktivitäts-Verminderung) und mit dem Verlust von Interesse und Konzentration verbunden („stilles Delir“).

Der Verlauf ist – wie erwähnt – typischerweise wechselnd (Fachbegriff: fluktuierend). Die Prognose (Heilungsaussichten) sind vor allem im höheren Lebensalter unklar, zweifelhaft, unsicher, um nicht zu sagen ungünstig(er). Das macht das Delir in dieser Altersspanne ggf. so verhängnisvoll.

Auf jeden Fall muss der ältere Delirante mit einer verlängerten Verweildauer im Krankenhaus rechnen. Und sogar mit einer erhöhten Sterblichkeit. Denn hier drohen häufiger Komplikationen.

Solche Komplikationen im Verlauf eines Delirs im höheren Lebensalter sind beispielsweise:

- Stürze

- Druck-Geschwüre

- Infektionen

- Inkontinenz (unkontrollierter Urin- oder gar Stuhl-Abgang)

- Sedierung (die erwähnte verminderte Wachheit bis hin zu einem gedämpft wirkenden Erscheinungsbild)

- Ernährungsstörungen (Trinken und Essen mit entsprechenden Folgen)

Was kann zu einem Delir führen?

Die Ursachen eines Delirs generell sind vielfältig. Einzelheiten würden hier zu weit führen, weshalb bei Interesse die entsprechende Fachliteratur empfohlen sei. Global kann man aber sagen, dass es vor allem Funktionsstörungen der Gehirns sind, ausgelöst durch Mangel an Sauerstoff und Glukose (Blutzucker), ferner durch konkrete Schädigungen des Gehirns (wobei vor allem bestimmte Gehirn-Areale besonders empfindlich reagieren), z. B. durch Hirninfarkt, Hirnblutung, Hirnhaut- oder Hirnentzündung, durch Epilepsie, Schädel-Hirn-Unfälle, aber auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen (Herzinfarkt, schwere Herzschwäche), Atemstörungen jeglicher Art, z. B. Lungenentzündung, Atemwegserkrankungen und schließlich durch fieberhafte Infekte (z. B. Harnwegsinfektion), durch Austrocknung, Störungen des Elektrolyt- und sonstigen Stoffwechsel-Haushalts u. a.

Immer häufiger belasten übrigens auch medikamentöse Einflüsse (s. o.), besonders durch zentral nervös-wirksame Substanzen (Einwirkung oder Entzug). Im Prinzip kann jedes Medikament beim alten Menschen ein Delir auslösen, vor allem so genannte anticholinerge Medikamente.

Solche potenziell delir-riskante Medikamente sind beispielsweise bestimmte Antidepressiva (stimmungsaufhellende Psychopharmaka), Lithiumsalze (zur Rückfall-Vorbeugung gegen manisch-depressive Erkrankungen), Arzneimittel gegen Parkinson, Hochdruck, Asthma, Epilepsie, Herz-Kreislauf-Schwäche (Digitalis), Infektionen jeglicher Art (Antibiotika), Laxantien (stuhlgang-anregende Substanzen), ferner Schmerzmittel, vor allem Rheumamittel, Betablocker, cortison-haltige Arzneimittel u.a.m.

Da inzwischen die Mehrzahl der älteren Menschen nicht nur ein, sondern zwei, mit zunehmendem Alter bis zu fünf und mehr Arzneimittel pro Tag einnehmen muss, kann man sich das gewachsene Risiko einer Delir-Gefahr gut vorstellen – allerdings auch die Probleme, mit denen der behandelnde Arzt zu kämpfen hat.

Bei den Medikamenten sind es übrigens nicht nur die ärztlich verordneten, sondern auch frei verkäuflichen, die ein Problem darstellen können. Das wird gern vergessen. Es sind also nicht nur die Mehrfach-Verordnungen, möglichst noch von mehreren Ärzten, die voneinander nichts wissen (dürfen oder können), man muss auch gezielt nach der Einnahme von frei verkäuflichen Schmerz-, Schlaf-, ja Erkältungstabletten fragen.

Risikofaktoren für ein Delir

Nun gibt es nicht nur Ursachen und auslösende, sondern auch prädisponierende Faktoren, d. h. was kann die Empfindlichkeit gegenüber einem möglichen Delir erhöhen (wobei auslösende und bahnende Ursachen häufig gar nicht auseinander gehalten werden können).

Als Risikofaktoren für ein Delir, besonders im höheren Lebensalter gelten:

Alter (wie erwähnt: je höher, desto problematischer), männliches Geschlecht (eigenartigerweise häufiger als bei Frauen), Seh-Behinderung, Demenz (Geistesschwäche, und zwar abhängig vom Schweregrad), Depressionen, Immobilität (z. B. Bettlägerigkeit), Schenkelhalsfrakturen, Dehydratation (unzureichende Flüssigkeitszufuhr, ältere Menschen vergessen regelrecht das Trinken und trocknen damit aus), Alkoholabhängigkeit, körperliche Erkrankungen (je nach Schweregrad), vor allem Schlaganfall und metabolische (Stoffwechsel-) Störungen.

Als oft direkt auslösende Faktoren eines Delirs werden von den Experten genannt:

Schwere und vor allem akute Erkrankungen, Schmerzmittel (s. o.), insbesondere Narkotika (Operation!), Harnwegsinfektionen, Blutarmut, Schmerzzustände, unter den Operationen (zusätzlich zum Narkose-Risiko) vor allem orthopädische und Herz-Operationen, außerdem Schock, Probleme bei der Sauerstoffzufuhr, ein Blasenkatheter, ja Fixierung (bei unruhigen Patienten, die aus dem Bett zu steigen oder gar zu fallen drohen) u. a.

Mehr generell, aber eben nicht ohne Grund (s. o.) gelten als auslösendes Risiko auch die Zahl medizinischer Eingriffe (je mehr, desto problematischer) sowie die Aufnahme auf einer Intensivstation.

Wie erkennt man ein Delir?

Die wichtigsten Symptome eines Delirs wurden bereits genannt. Das ist aber nicht immer so einfach, selbst für Ärzte oder Fachpersonal in der Klinik. Vor allem muss man – insbesondere im höheren Lebensalter – den aktuellen Krankheitszustand mit dem vergleichen, was der Patient früher geboten hat (möglicherweise auch schon gelegentlich mit bestimmten Einbußen).

Dem dient die so genannte Fremd-Anamnese, d. h. die sorgfältige Erhebung entsprechender Vorbefunde durch Angehörige oder Pflegepersonal (z. B. bei Heim-Bewohnern). Hier erfährt man dann in der Regel auch mehr, was die Medikamenten-Einnahme anbelangt.

Darüber hinaus gibt es verschiedene Instrumente zur Erfassung des psychopathologischen (Krankheits-)Befundes (z. B. Confusion Assessment Method, Mini Mental State u. a.). Dort geht es meist um die Frage von Beginn und Verlauf des Beschwerdebildes, von Störungen der Aufmerksamkeit und so genanntem inkohärenten (unzusammenhängenden) Denken, um die Veränderung der Vigilanz (Wachheit) usw. Außerdem um Orientierung, Merkfähigkeit, Aufmerksamkeit, Konzentration, weitere kognitive (geistige) Funktionen, die motorische Reagibilität (Bewegung, insbesondere Reaktionszeit) usw.

Bei der so genannten syndromalen Differential-Diagnose (auf Deutsch: um welches Beschwerdebild könnte es sich sonst noch handeln?) muss das Delir des alten Menschen vor allem von anderen hirnorganischen Zustandsbildern abgegrenzt werden. Fachbegriffe: amnestisches Syndrom, Verwirrtheitszustand, Demenz u. a. Das ist natürlich besonders in jenem Alter schwierig, in dem ohnehin – alterstypische und damit alters-entsprechende – Defizite zu erwarten sind. Die Frage lautet deshalb: Was also ist der physiologische Alterungs-Verlauf und was ein mehr oder weniger plötzlich ausbrechender krankhafter Zustand, selbst wenn das Beschwerdebild nicht extrem ausfällt?

Deshalb ist es gerade hier besonders schwierig, zwischen Delir und Demenz zu differenzieren (zumal ja die Demenz einer der Risiko-Faktoren für ein Delir ist – s. o.).

In den meisten Fällen entscheidet daher erst der Krankheitsverlauf über die endgültige Diagnose: Delir und/oder Demenz. Außerdem ist das Syndrom Delir häufig einer Demenz aufgepfropft. Liegen also kognitive (geistige) Defizite und Hinweise auf eine Bewusstseinstrübung vor, nehmen die Experten in der Regel erst einmal an, dass derlei unter gezielter Behandlung wieder zurückgeht. Das wäre also das Delir. Wenn nicht, muss man eine Demenz annehmen. Die allerdings ist derzeit therapeutisch nicht so erfolgreich zu behandeln und schreitet deshalb fort (bildet sich auf jeden Fall nicht zurück, wie das Delir).

Glücklicherweise gibt es darüber hinaus noch konkrete Unterscheidungsmöglichkeiten. Dazu gehören folgende differentialdiagnostische Erkenntnisse:

  • Für ein Delir spricht:

Akuter Beginn, fluktuierender (wechselnder) Verlauf, getrübtes Bewusstsein, verminderte Aufmerksamkeit und vor allem Orientierung (Ort, Zeit, eigene Person), ferner häufig Halluzinationen (z. B. optische Sinnestäuschungen), flüchtige Wahn-Bildungen, inkohärente (unzusammenhängende) Sprache, auffällige Psychomotorik (Bewegungsmuster), oft Angstzustände und meist auch körperliche Symptome (Schweißausbrüche, Zittern, Herzrasen u. a.).

  • Für eine Demenz spricht:

Schleichender Beginn, beständiger Verlauf (in der Regel zunehmend), waches Bewusstsein, wenig geänderte Aufmerksamkeitsleistung, nicht so ausgeprägte Orientierungsstörungen wie beim Delir, selten Trugwahrnehmungen, meist kein Wahn, kaum Wortfindungsstörungen, Bewegung unauffällig, in der Regel keine zusätzlichen körperlichen Symptome und auch keine Angstzustände.

Was ist zu tun?

Das wichtigste ist eine saubere Diagnose, die rasch herausfindet, um was es sich hier handelt, nämlich ein Delir. In der Regel wird man deshalb die Möglichkeiten einer Klinik, am besten einer Fachklinik oder Fach-Abteilung nutzen, empfehlen die Experten. Dort stehen dann nicht nur Internisten und Neurologen zur Verfügung, sondern auch eine umfassende Labordiagnostik (nicht zuletzt zur Klärung, welche Medikamente ge- oder gar missbraucht wurden). Und die Möglichkeit einer lückenlosen Überwachung sowie anschließend ggf. einer durchaus aufwändigen Therapie. Einzelheiten zu letzterem siehe die Fachliteratur.

Es gibt aber auch so genannte nicht-medikamentöse Basis-Maßnahmen, an die man denken und die man nutzen sollte. Dazu gehören beispielsweise:

Engmaschige Beobachtung/Überwachung. Der Versuch, die beeinträchtigte Orientierung (örtlich, zeitlich oder gar zur eigenen Person) wieder zu regeln, vor allem wenn es sich um Sinnestäuschungen handelt (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Fühlen). Die Umgebung sollte überschaubar sein (sprich Orientierungshilfen, ausreichende Beleuchtungsverhältnisse u. a.). Der Schlaf-Wach-Rhythmus muss normalisiert werden (also nicht tags dösig und nachts umtriebig). Zu vermeiden sind Reizüberflutung (z. B. Lärm), aber auch das Gegenteil: keinerlei Eindrücke mehr und damit die Gefahr der Orientierungslosigkeit.

Hilfreich ist es natürlich auch, wenn die (pflegerischen) Bezugspersonen immer oder möglichst oft die gleichen sind. Dazu gehört natürlich auch die notwendige einfühlsame Kontaktaufnahme und dauerhafte Kommunikation. Unterstützend ist auch ein regelmäßiger und überschaubarer Tagesablauf, die Förderung von Aktivität und insbesondere körperlicher Mobilität und die vorbeugenden Maßnahmen zur Verhinderung von selbst- oder gar fremdgefährlichem Verhalten. Keiner besonderen Erwähnung bedarf die Vermeidung oder zumindest Linderung von Schmerzen (was zu Hause, vor allem allein, nicht immer garantiert ist), die ausreichende Nahrungs- und insbesondere Flüssigkeitszufuhr, ggf. auch Sauerstoff-Behandlung.

Schließlich hat sich als viel nützlicher, als man früher annahm, die so genannte Psychoedukation erwiesen, d. h. die Aufklärung über die meist beunruhigenden und befremdlichen Beschwerden und ihre Konsequenzen. Das betrifft aber nicht nur den Patienten, sondern auch seine Angehörigen, weshalb man zu den wichtigsten Bezugspersonen einen engen Kontakt unterhalten sollte. (Nicht zuletzt dort, wo sich die Angehörigen dann doch erstaunlich selten sehen lassen, dafür gelegentlich ansprüchlich auftreten, vor allem bei der Klinik-Entlassung, wo sie dann wieder die volle Verantwortung übernehmen müssen)

Zu vermeiden sind vor allem wiederholte Verlegungen, wenn irgend möglich die Katheterisierung oder gar Fixierung, die den Patienten beunruhigende Obstipation (Stuhlgang) und der Einsatz von Medikamenten mit so genannten anticholinergen Nebenwirkungen (Mundtrockenheit, vor allem aber Wasserlassen, Stuhlgang u. ä., von der erneuten Delir-Gefahr ganz zu schweigen). Und wenn sie doch nötig sind, dann muss man sie noch sorgfältiger überwachen (vor allem was die drohenden Verwirrtheitszustände anbelangt).

In den letzten Jahren wurden bestimmte Betreuungs-Programme entwickelt, die der Vorbeugung eines Delirs beim alten Menschen dienen: Das sind entsprechende Interventionen bei akut internistisch erkrankten Patienten bzw. vor und nach einer Operation (s. o.) und zur Vermeidung immer wieder auftretender Delir-Risiken (z. B. Austrocknung durch vermindertes Trinkbedürfnis, Fehl-Medikationen durch Arzneimittel, die ein Delir geradezu provozieren können, Störungen des Schlaf-Wach-Rhythmus u. a.). Sie scheinen inzwischen zu einer Verminderung der Delir-Gefahr geführt zu haben. Das wäre vor allem beim älteren Menschen dringend notwendig, denn dort sind die Konsequenzen besonders folgenschwer.

DEMENZ

Der Begriff Demenz war früher kein Thema, beschäftigte höchstens Hausärzte, Psychiater und Neurologen – und natürlich die betroffenen Angehörigen, vom Patienten selber ganz zu schweigen. Heute ist die Demenz, vor allem die spezifische Form der Alzheimer-Demenz, eines der am meisten diskutierten Themen. Und dies nicht umsonst: Je älter, desto häufiger muss mit einer Demenz gerechnet werden. Man schätzt, dass mindestens 15% der über 80-Jährigen von einer Demenz betroffen sind.

Dabei ist die Alzheimer-Demenz nicht nur die häufigste Demenzform, sondern die häufigste Hirn-Erkrankung überhaupt. Zerebro-vaskuläre Leiden (Gehirndurchblutung) sind die zweithäufigsten Ursachen dementieller Syndrome. Aber auch die so genannten primär degenerativen sowie vaskulären Demenzen sind altersabhängig – und nehmen offenbar zu. Einzelheiten zu diesen Krankheitsbildern was Schwerebild, Ursachen, Verlauf, Therapie usw. anbelangt siehe die z. T. ausführlichen Kapitel in dieser Serie. Eine Kurzfassung findet sich im nachfolgenden Kasten.

Demenz in Stichworten
- Begriff: Kommt aus dem lateinischen = mens und umfasst eine erstaunliche Inhaltsbreite, die aber in Kenntnis des menschlichen Geistes nicht verwundert: Denken, Verstand, Überlegung, Besinnung, Sinnesart, Denkweise, Gemüt, Charakter, Gewissen, Mut, Seele, Geist, Gedanke, Erinnerung, Meinung, Absicht u. a.
- Definition nach ICD-10 der WHO (gekürzt):
- Abnahme des Gedächtnisses und weiterer kognitiver (geistiger s. o.) Leistungen
- erhebliche Beeinträchtigung der Aktivitäten des täglichen Lebens
- Dauer mindestens sechs 6 Monate
- trotz allem „Bewusstseins-Klarheit“

Demenzen entwickeln sich meist chronisch (dauerhaft und fortschreitend), allenfalls subakut (mäßig schnell). In der Regel ist es das Umfeld, das die kognitiven Leistungseinschränkungen über einen Zeitraum von Monaten oder gar ein bis zwei Jahren wahrzunehmen beginnt – oder auch nicht, vorübergehende Zweifel eingeschlossen. Das liegt daran, dass viele Demenz-Patienten unter Alltagsbedingungen eine intakte „Fassade“ aufrechterhalten können. Nur in bestimmten Situationen, Krisen, Be- oder Überlastungen werden dann die bereits vorhandenen Defizite deutlich, meist im Sinne einer Kritikminderung und vor allem Desorientierung (besonders zu Ort und Zeit; zur eigenen Person bedeutet dann schon ein fortgeschrittenes Stadium).

Eine krisenhafte Eskalation (Steigerung, Verstärkung, Verschärfung des Zustandsbildes) wird zumeist durch mehr oder weniger plötzlich belastende medizinische Beeinträchtigungen oder auch zwischenmenschlich problematische Verhaltensweisen hervorgerufen. Dabei häufen sich vor allem folgende Krisen- und Notfall-Situationen:

  • Akutes Auftreten eines Demenz-Syndroms: Das ist eigentlich ein Widerspruch in sich, denn die Demenz entwickelt sich definitionsgemäß meist schleichend (s. o.). Wenn derlei also akut, d.h. plötzlich ausbricht, dann handelt es sich eher um die so genannte Demaskierung oder Verstärkung vorbestehender kognitiver Defizite unter besonderen situativen Bedingungen, wie es die Experten umschreiben. Oder konkret: Urlaub (belastender als man denkt, selbst in gesunden Tagen), nach dem Verlust einer umsorgenden Person (zumeist Partner), bei der Aufnahme in ein Krankenhaus oder Heim u. a.

Mitunter können auch plötzlich auftretende oder sich rasch entwickelnde organische Veränderungen dahinter stehen, z. B. ein Hirn-Infarkt (Hirnschlag) oder – meist weniger rasch belastend – eine Reihe von neurologischen Erkrankungen (z. B. die Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, eine seltene präsenile spongiöse Enzephalopathie, also Erkrankung der Gehirnsubstanz).

  • Oder es handelt sich um eine akute klinische Verschlechterung einer bereits manifesten Demenz: Das heißt auf Deutsch: Die Demenz war bereits erkennbar, das allseits (!) registrierte Leidensbild verstärkt sich aber plötzlich deutlich. Hier handelt es sich meist um ein so genanntes „aufgepfropftes“ Delir (s. o.), d. h. plötzlich belasten zwei Krankheiten bzw. verstärken sich in ihren Auswirkungen. So etwas ist möglich durch eine Exsikkose (Austrocknung, zumal der ältere Mensch ohne konsequente Kontrolle das Trinken gerne „vergisst“), durch eine Pneumonie (Lungenentzündung) oder einen Harnwegs-Infekt. Gleiches gilt für einen zusätzlichen Hirn-Infarkt.

Problematisch sind auch komplizierende psychopathologische (krankhafte) Auffälligkeiten. Dazu gehören Depressivität, Wahn oder Halluzinationen (Sinnestäuschungen), die dann über eine erhöhte Suizid-Gefahr, Erregungszustände u. a. zu einer Dramatisierung des gesamten Leidensbildes und – in weniger ausgeprägter Form – zumindest zu einer Verschlechterung der geistigen Leistungen und seelischen Stabilität beitragen (Fachbegriffe: Neu-Auftreten oder Exazerbation einer psychotischen bzw. affektiven Begleit-Symptomatik).

  • Störungen des Verhaltens bei bekannter und häufig bereits fortgeschrittener Demenz. Beispiele:

- Verweigerung der Flüssigkeits- und Nahrungsaufnahme

- Selbstgefährdung durch beispielsweise unsicheres Hantieren mit gefährlichen Haushaltsgegenständen

- ständiges Herumlaufen (Fachbegriff: motorische Unruhe)

- Umkehrung des Schlaf-Wach-Rhythmus (tagsüber dösig, nachts wach)

- Katastrophen-Reaktionen, d. h. plötzlich ängstlich, gereizt oder gar aggressiv, beispielsweise durch eine vermeintliche(!) Versagens- oder Bedrohungs-Situation

- Aggressivität, häufig ausgelöst durch eine Überforderung des Patienten

- sowie Verhaltensstörungen, die sekundär durch Überforderung, Erschöpfung oder gar vitale (Lebens-)Bedrohungen der pflegenden Angehörigen ausgelöst werden können

  • Körperliche Störungen (Herz-Kreislauf, Magen-Darm, Stoffwechsel, Wirbelsäule und Gelenke usw.), die von Patient und Pflegenden nicht bewältigt werden können. Besondere Problem-Schwerpunkte: epileptische Anfälle, Parkinson-Erkrankung, Inkontinenz u. a.
  • Überforderung oder Erkrankung von Partner bzw. Pflegepersonal mit daraus resultierendem Zusammenbruch der häuslichen Versorgung (oder gar im Heim).
  • Unerwünschte Wirkungen von Medikamenten, z. B. ausgeprägte Sedierung (Dämpfung) oder medikamentös bedingte Unruhezustände.
  • Ungünstige zwischenmenschliche Entwicklung zwischen Patient und Umfeld, z. B. durch notwendige Einschränkungen, die aber nicht begriffen oder akzeptiert werden usw.

Zur Therapie der Demenz

Alle diese Situationen gelten als Krisen oder Notfälle; eine kurze ambulante Intervention reicht hier häufig nicht aus. Man muss die Möglichkeiten einer stationären Aufnahme in einer Klinik, möglichst noch Spezial-Abteilung ins Auge fassen. Hier gilt es dann nach der Ursache für die aktuelle Verschlechterung zu fahnden. Sind es körperliche Ursachen, empfehlen sich im Wesentlichen die gleichen diagnostischen wie therapeutischen Schritte wie beim Delir (s. o.). Ist es ein der Demenz zu Grunde liegendes krankhaftes Geschehen, kann es zumeist nicht kausal behandelt werden, d. h. die eigentliche Demenz-Ursache entzieht sich noch immer unseren therapeutischen Möglichkeiten.

Anders bei den begleitenden oder die Situation komplizierenden körperlichen Ursachen einschließlich psychopathologischer Auswirkungen. Die können in vielen Fällen durchaus erfolgreich mit den üblichen internistischen, neurologischen bzw. psychiatrischen Verfahren behandelt werden. Das gilt vor allem für Unruhe, Reizbarkeit, Aggressivität, aber auch Angst, Deprimiertheit, Schlafstörungen, wenn nicht gar Wahn oder Sinnestäuschungen. Allerdings gilt es gerade bei Demenz-Kranken und damit höherem Lebensalter nicht nur die Möglichkeiten von Antidepressiva, Schlafmitteln, antipsychotischen Neuroleptika, ggf. Beruhigungsmitteln u. a. zu nutzen, sondern auch ihre Grenzen zu respektieren, insbesondere was Nebenwirkungen und Arzneimittel-Wechsel­wirkungen anbelangt.

Auch an die pflegenden Angehörigen denken

Dabei geben die Experten etwas zu bedenken, das erst einmal ungewöhnlich, vielleicht sogar diskriminierend erscheinen könnte. Gemeint ist der Schutz der Angehörigen vor erkennbaren gesundheitlichen Risiken durch Betreuung, Hilfestellung, Pflege. Was ist damit gemeint?

Zum einen der Nachtschlaf der Angehörigen, der gerade Demenz-Kranke nachhaltig beeinträchtigt sein kann. Hier ist dann die Erschöpfung förmlich programmiert, einschließlich notwendiger Konsequenzen für die nähere, auf jeden Fall aber weitere Zukunft (z. B. Heim). Auf jeden Fall muss man bei den Verwandten und Betreuern auf psychische Überforderung und körperliche Erschöpfung achten. Dieser Aspekt hat wesentlichen Einfluss auf die Entscheidung über eine – wenn auch nur kurz- bis mittelfristige – stationäre Aufnahme bzw. das erwähnte Heim.

Zum anderen gilt es durchaus zu berücksichtigen, dass beispielsweise körperlich unterlegene Partner ohne Unterstützung mit aggressiven Patienten nicht allein gelassen werden dürfen. Wenn in solchen Fällen keine tragbare Lösung zum Schutz der Betroffenen gefunden werden kann, gilt der Patient ebenfalls als „Notfall“, der in ein Krankenhaus aufgenommen werden muss (sonst könnte es nämlich sein, dass man plötzlich zwei behandlungsbedürftige Patienten hat).

Wenn eine Überforderung der Angehörigen erkennbar wird, eine Not-Aufnahme jedoch weder vertretbar noch durchsetzbar ist, müssen die Angehörigen umfassend aufgeklärt und unterstützt werden, was die Möglichkeiten (und leider auch Grenzen) häuslicher Pflege, regionaler Angehörigengruppen, Kontakte zur Alzheimer-Gesellschaft, Unterbringungsmöglichkeiten in Tagespflege-Einrichtungen u. a. anbelangt. Dazu gehören natürlich auch Fragen zu rechts-wirksamen Entscheidungen, die das ganze noch komplizieren und die Fähigkeiten bzw. Möglichkeiten vieler Angehörigen ohne Experten-Rat in der Regel zu überfordern pflegen.

AFFEKTIVE STÖRUNGEN

Zu den affektiven Störungen zählt man vor allem Depressionen und manische Hochstimmungen.

Depressionen sind schon in der Gesamtbevölkerung, vor allem aber im höheren Lebensalter häufig anzutreffen. Man spricht – je nach diagnostischen Kriterien – von bis zu dreißig Prozent in der Alten-Bevölkerung.

Das Alter an sich erhöht zwar das Depressions-Risiko nicht, wohl aber die mit dem Alter verbundenen körperlichen Beeinträchtigungen und Behinderungen. Beispiele: Immobilität, Seh- und Hörstörungen, Pflegebedürftigkeit u. a.

Bei den depressiven Zuständen werden drei Diagnose-Gruppen unterschieden (die nebenbei auch für jüngere Patienten gelten):

  • Affektive Erkrankungen, deren Beginn meist schon vor, seltener nach dem 65. Lebensjahr zu ertragen war. Die wichtigsten Symptome sind

gedrückte Stimmung, Interessenverlust, Freudlosigkeit, Verminderung des Antriebs mit erhöhter Ermüdbarkeit und Aktivitätseinschränkung, reduzierte Konzentrationsfähigkeit und Aufmerksamkeit, mangelhaftes Selbstwertgefühl oder Selbstvertrauen, Schuldgefühle und insbesondere Gefühle von Wertlosigkeit, die zu negativen und pessimistischen Zukunfts-Perspektiven führen, außerdem Schlafstörungen, verminderter Appetit und ggf. Suizidgedanken oder gar Suizidhandlungen.

Weitere wichtige Krankheitszeiten sind die mangelnde Fähigkeit, auf normalerweise positiv erlebte Reize entsprechend zu reagieren (zermürbende Freudlosigkeit), eine Störung des Tagesrhythmus mit Früherwachen und Morgentief („Morgengrauen“), psychomotorische (Bewegungs-)Störungen im Sinne von Hemmung oder Agitiertheit (nervös, fahrig, angetrieben) sowie keine Freude mehr an sexuellen Aktivitäten und ein deutlicher Gewichtsverlust.

Weitere Einzelheiten siehe die entsprechenden Kapitel in dieser Serie mit ausführlichen Symptom-Listen.

  • Anpassungsstörungen im Senium (früher geläufiger Begriff für das höhere Lebensalter, damals auch als „Greisen-Alter“ übersetzt) sind meist durch den Verlust von Angehörigen oder Freunden, aber auch von Mobilität und Autonomie ausgelöst. Auch die resigniert-deprimierte Reaktion auf eine körperliche Erkrankung gehört dazu.

Anpassungsstörungen äußern sich also typischerweise durch leichtere depressive bzw. ängstlich getönte Zustandsbilder.

Auch hier: Weitere Informationen siehe die entsprechenden Kapitel.

  • Organische depressive Störungen sind unmittelbar, d. h. biologisch zu erklären, meist durch Hirn- oder andere körperliche Erkrankungen verursacht. Die wichtigsten Beispiele sind zerebrale (Gehirn-) Abbauprozesse, Hirninfarkte, schwere Anämie („Blutarmut“), ausgeprägte chronische Leber- und Nieren-Erkrankungen sowie bestimmte Neoplasien (z. B. ein Tumor der Bauchspeicheldrüse).

Bei den Alters-Depressionen sind einige Besonderheiten zu beachten. Zum einen die Belastung durch eine Gemütskrankheit, die zu den gefürchtetsten Leiden überhaupt gehört - für alle Altersstufen. Dazu zählt natürlich auch bei den Senioren der entsprechende Leidensdruck, der vor allem mit den vielfältigen Einschränkungen in der Alltagsbewältigung einhergeht, bis hin zur erhöhten Suizidgefahr.

Was im dritten und vierten Lebensalter (also bei den Senioren und Hochbetagten) noch dazu kommt, sind die ungünstigen Auswirkungen auf die ohnehin meist beeinträchtigte körperliche Gesundheitslage. Hier gilt es wieder einmal auf die mangelhafte Nahrungs- und insbesondere Flüssigkeitszufuhr zu achten, d.h. die Folgen eines scheinbar unerklärlichen Gewichtsverlustes einschließlich Austrocknung. Und natürlich auf eine ggf. beeinträchtigte Therapietreue, konkret eine zuverlässige Medikamenteneinnahme.

Daneben aber schlägt noch die erwähnte biologische Ebene zu Buche, nämlich die belastete Herz-Kreislauf-Funktion, entgleisungs-gefährliche endokrin-metabolische sowie immunologische Prozesse, schmerzhafte Wirbelsäulen- und Gelenk-Leiden u. a. Kein Wunder, dass nicht nur die Suizidgefahr, sondern auch die Mortalitäts-(Sterblichkeits-)Rate depressiver alter(!) Patienten deutlich über derjenigen altersgleicher nicht-depressiver Personen liegt.

Dazu die hohe Rückfallgefahr und vor allem das zermürbende Chronifizierungs-Risiko depressiver Zustände beim alten Menschen.

Obgleich man im allgemeinen meint, eine Schwermut schnell erkennen zu können, ist dies nicht nur generell ein tragischer Irrtum, er hat vor allem im höheren Lebensalter seine eigenen Schwierigkeiten und Konsequenzen. Denn auf Grund der häufigen Co-Morbidität (wenn eine Krankheit zur anderen kommt) von körperlichen und psychischen Störungen im Alter ist es besonders schwer, die Zusammenhänge rechtzeitig zu erkennen und fundiert zuzuordnen. So kann die Entscheidung bei einer Reihe an sich schon häufiger Erkrankungen durchaus schwierig sein, ob hier auch depressive Störungen oder „nur“ resignierte Reaktionen auf das Krankheitsbild eine Rolle spielen. Beispiele: Schmerzzustände bei chronischen Gelenk-Erkrankungen, Krebs, Medikamenten- oder Alkoholmissbrauch, Störungen von Blase und Mastdarm u. a.

Im höheren Alter ist es nicht immer eindeutig zu klären, ob körperliche Symptome Ausdruck einer Depression (also im Grunde psychosomatisch) oder einer organischen Begleiterkrankung sind. Beispiele: So kann eine Schlafstörung durchaus Ausdruck einer Depression, aber auch einer Herz-Insuffizienz oder der Gewichtsverlust depressions-typisch, aber auch durch eine Karzinom-Erkrankung bedingt sein.

Diese erschwerten Bedingungen gelten aber nicht nur für die Diagnose, sondern auch für die Therapie. Im Prinzip gilt es hier zwar die gleichen Richtlinien wie bei jüngeren Patienten zu beachten, doch einiges müssen nicht nur der Arzt, sondern auch die Pflegenden und vor allem Angehörigen zusätzlich mit einbringen. So soll gerade der alte Mensch Gelegenheit bekommen, sich zu seinen Gefühlen und Problemen frei äußern zu können, auch wenn er das deutlich umständlicher (zumal durch eine Depression verunsichert) und vielleicht auch „uneinsichtiger und eigensinniger“ vorzubringen und auszuleben scheint. Vieles, was er als zusätzliche Belastung mitbringt, ist zudem peinlich und scham-besetzt, z. B. eine Harn- oder gar Stuhl-Inkontinenz. Das erfordert häufig den Einsatz mehrerer Arzneimittel-Gruppen, die sich dann auch noch wechselseitig in ihrer Nebenwirkung verstärken oder die Wirkung abschwächen (mitunter auch unkontrollierbar anheben).

Zuletzt muss noch einmal auf einen Punkt hingewiesen werden, der im höheren Lebensalter tatsächlich zu besonderer Sorge Anlass gibt, insbesondere während einer Depression, nämlich die

SUIZIDALITÄT IM HÖHEREN LEBENSALTER

In Deutschland sterben laut Suizid-Statistik pro Jahr etwa 11.000 Menschen von eigener Hand. Die Suizid-Raten fallen glücklicherweise etwas, leider aber nicht bei den Älteren. Sie liegen bei über 60-Jährigen etwa doppelt so hoch wie bei Jüngeren. Bestürzend ist vor allem das Verhältnis Suizidversuche zu vollendeter Selbsttötung: In jüngeren Jahren etwa 10 : 1, im Alter 3 : 1. Das männliche Geschlecht ist dabei einem besonders hohen Risiko ausgesetzt. Je älter, desto seltener so genannte suizidale Gesten (auch parasuizidale Gesten genannt) und desto häufiger harte Suizidmethoden mit wenig Überlebenschancen.

Die Ursachen sind überwiegend seelische Störungen, vor allem depressive Erkrankungen. Im höheren Lebensalter kann es auch zu einer suizidal motivierten passiven Selbstgefährdung durch Verweigerung von Medikamenten- und Nahrungsaufnahme kommen (englischer Fachbegriff: silent suicides).

Manchmal hört man den Hinweis, der so genannte „Bilanz-Suizid“ nehme im höheren Lebensalter zu: resigniert – hoffnungslos – verzweifelt – Selbsttötung als nüchtern abgewogene Erlösung einer seelisch, körperlich oder psychosozial untragbaren Lebenssituation. Doch das ist ein Irrtum. Auch im höheren Lebensalter ist der Bilanz-Suizid selten, der depressions-bedingte die Regel (was natürlich auch mit der misslichen Lebenssituation und damit indirekt bilanz-abhängig zusammenhängen kann).

Wichtig ist auf jeden Fall die Erkenntnis: Suizid-Gedanken müssen nicht spontan geäußert, dafür in der Regel gezielt erfragt werden. Dabei gilt es auf ausweichende Antworten zu achten, die sind zumeist verdächtig. Auch frühere Suizidversuche und derzeit scheinbar nicht so ernstere suizidale Überlegungen sind bedeutsam. Dies vor allem dann, wenn folgende Risiko-Faktoren vorliegen:

- hohes Alter, vor allem bei Männern
- Behinderungen und schwere körperliche Krankheiten
- Einsamkeit

Viele Patienten durchlaufen ein längeres „prä-suizidales Syndrom“ mit Einengung von Denken und Handeln, Aggressionshemmung oder Aggressionsumkehr und (damit) Selbsttötungsphantasien und Todeswünschen. Typisch sind auch der Abbau sozialer Kontakte, Hoffnungslosigkeit, Selbstvernachlässigung, mangelnde Therapietreue (vor allem Einnahmezuverlässigkeit der verordneten Medikamente) sowie Apathie, d.h. Gefühllosigkeit, Teilnahmslosigkeit, Fehlen jeglicher spontaner Aktivität, vor allem auf Gemüts-Ebene, ohne Initiative und Spontaneität, kurz: ein seelisch-körperlicher Antriebsmangel. Einzelheiten siehe die entsprechenden Kapitel in dieser Serie.

Therapeutisch gelten in jedem Lebensalter die gleichen Regeln: psychotherapeutische Krisen-Intervention (Aufbau einer therapeutischen Beziehung), in deren Mittelpunkt die kritische Akut-Situation, die Auslöser wie z. B. Verlustereignisse und Kränkungen stehen sowie körperliche Beeinträchtigungen, z. B. chronische Schmerzbilder. Und eine so genannte symptom-orientierte Pharmakotherapie, d. h. die Behandlung von quälenden Schmerzen und Schlafstörungen, von kräfte-zehrender Unruhe, Nervosität und Fahrigkeit u. a.

Wenn sich das gefährliche Leidensbild nicht spürbar lindern lässt, muss an eine stationäre Aufnahme gedacht werden. Dringlich ist dies vor allem zur Verhinderung bzw. noch konsequenter nach einem Suizidversuch bei

- Psychosen: depressive, manisch-depressive und schizophrene Patienten, letztere mit beispielsweise imperativen (befehlenden) Stimmen als Auslöser der Suizidversuchs
- Nach „harten“ Suizid-Maßnahmen (z. B. versuchtem Erhängen oder Erschießen)
- Wenn die Gefahr eines erweiterten Suizids besteht (Ehepartner, Lebenspartner, Kinder, Eltern)
- Wenn der Patient durch den Suizidversuch in eine gefährliche organische Situation geraten ist, z. B. Vergiftungs-Zustand, Durchblutungsstörung nach Erhängungs-Versuch usw.

Keine Zweifel dürfen auch aufkommen, wenn sich der Patient nicht von seinen Suizid-Impulsen distanzieren kann. Das erfordert eine sehr genaue und vor allem professionelle Exploration, also gezielt erfragende Untersuchung. Oder bei zusätzlichen Hinweisen auf Selbst-Gefährdung. Notfalls muss man zum Unterbringungsgesetz greifen.

Die Schlüsselstellung kommt dem Hausarzt zu. Gerade im höheren Lebensalter konnte man nämlich feststellen, dass ein hoher Anteil von Suizidenten in den Wochen vor dem Suizid(-Versuch) mit dem Hausarzt in Kontakt getreten war. Allerdings häufig mit eher unspezifischen, nicht auf die konkrete Gefährdung hinweisenden Bemerkungen, Symptomen oder Bitten um Hilfe.

Natürlich ist gerade die Hausarzt-Situation allein von der Arbeits-Belastung in der Praxis her problematisch, was das notwendige Gespür, vor allem aber die entsprechende Zeit zur Ergründung suizidaler Absichten anbelangt. Gleichwohl ist es die beste Möglichkeit der Suizidprophylaxe. Dies insbesondere im höheren Lebensalter und gestützt durch die in letzter Zeit verstärkten Informations- und Weiterbildungs-Angebote entsprechender Institutionen und Vorbeugungs-Programme (z. B. www.suizidpraevention-deutschland.de oder www.buendnis-depression.de).

PSYCHOTISCHE STÖRUNGEN IM HÖHEREN LEBENSALTER

Zu den psychotischen Störungen gehören vor allem die schizophrenen Psychosen. Ein erstmaliger Ausbruch einer Schizophrenie nach dem 65. Lebensjahr ist allerdings ungewöhnlich. Kommt es hier zu Wahn und Halluzinationen (Sinnestäuschungen), muss man eher an eine organische Verursachung denken.

Psychotische Störungen mit aggressiven Durchbrüchen werden am häufigsten bei Demenzen zum Problem. Auch bestimmte körperliche Erkrankungen und die dafür notwendigen Medikamente können über die Auslösungen eines Delirs zu psychotischen Reaktionen führen. Beispiele: Corticosteroide, L-Dopa, Antikonvulsiva (Antidepressiva), bestimmte Antibiotika u. a.

So genannte schizophreniforme Psychosen, die also einer Schizophrenie lediglich ähneln, aber nicht die gleiche Ursache haben, sind durch folgende Merkmale charakterisiert:

- Erscheinungsbild wie bei einer Schizophrenie, d. h. ohne Störungen der Bewusstseinslage und kognitiven (geistigen) Funktionen.
- Schizophrenie-ähnliche Symptome, aber von weniger als einem Monat Dauer sowie möglicherweise körperlichen Ursachen, auch wenn sie augenblicklich schwer objektivierbar sind.

Was bei schizophreniformen Psychosen außerdem auffällt, sind optische (Seh-) und taktile (Tast-) Sinnestäuschungen, was sich vor allem im höheren Lebensalter findet. Hier muss man auch an das Charles-Bonnet-Syndrom denken, dem in dieser Serie ein eigenes Kapitel gewidmet ist: organisch bedingte, stark beeinträchtigende Sehleistungen, die zu optischen Halluzinationen und damit zur Fehl-Diagnose „Schizophrenie“ führen können.

Es gibt aber auch fließende Übergänge zwischen Schizophrenie und wahnhaften Störungen im Alter. Dabei quälen vor allem ein Beeinträchtigungs- und Verfolgungswahn mit ausgeprägten Sinnestäuschungen (Fachbegriff: Alters-Paraphrenie). Das findet sich häufig bei vereinsamt lebenden Menschen (früherer Begriff: „Kontaktmangel-Paranoid“). Charakteristisch ist dabei die Erkenntnis, dass über die wahnhaften Befürchtungen hinaus kaum psychopathologische Auffälligkeiten bestehen, wie sie ansonsten bei einer schizophrenen Psychose ins Auge fallen.

Je nach Schweregrad und ambulanter Betreuungsmöglichkeit kann dies hausärztlich, ggf. aber wohl nur stationär in den Griff zu bekommen sein. Entscheidend dafür sind auch die seelischen, körperlichen und vor allem psychosozialen Konsequenzen, die sich aus einem solchen Krankheitsbild ergeben können. Sowohl ambulant als auch stationär stehen dafür eine Reihe von wirkungsvollen Arzneimitteln zur Verfügung: An erster Stelle die antipsychotisch wirkenden Neuroleptika, von denen sich einige für das höhere Lebensalter als besonders verträglich anbieten (siehe Fachliteratur). Allerdings muss auch und gerade hier an bestimmte Nebenwirkungen gedacht werden, die natürlich im höheren Lebensalter verstärkt zu Buche schlagen.

MISSBRAUCH UND ABHÄNGIGKEIT

Beim so genannten Substanz-Missbrauch bzw. der Substanz-Abhängigkeit, wie dies heute genannt wird, spielt vor allem der Alkohol eine Rolle, und zwar im höheren Lebensalter keineswegs selten. Nach neueren Erkenntnissen sollen bis zu zehn Prozent aller älteren Menschen betroffen sein. Insofern haben die Gerontopsychiater ein waches Auge auf Symptome, die als Alkohol-Folgeerkrankungen gewertet werden müssen – psychiatrisch, neurologisch, internistisch und psychosozial (siehe die entsprechenden Hinweise in dieser Serie). Dabei geht es im Wesentlichen um zwei Bereiche, nämlich Intoxikation und Entzug.

Alkoholkrankheit

- Bei einer leichten Intoxikation (früher als Rauschzustand bezeichnet) stehen vor allem Verhaltensänderungen im Vordergrund, z. B. Enthemmung, Rededrang, Euphorie (inhaltsloses Glücksgefühl) und/oder Gereiztheit, Verminderung der Kritikfähigkeit u. a. In neurologischer Hinsicht Gang- und Standunsicherheit, Sprachstörungen u. a.

Bei einem mittelgradigen Vergiftungszustand kommt es besonders zu affektiven Beeinträchtigungen, z. B. inadäquate Euphorie (unbegründete Hochstimmung), aber auch Gereiztheit bis Aggressivität; und zu Störungen von Koordination (geordnete Bewegung), Kritik-, Urteils- und Erinnerungsfähigkeit.

Bei einem schweren Rauschzustand finden sich dann entsprechende neurologische Beeinträchtigungen, z. B. Stand- und Gangunsicherheit, Sprachstörungen, schließlich deutliche Bewusstseins- und Orientierungsstörungen sowie vegetative Entgleisungen wie Schwindel, Erbrechen, Kreislaufkollaps u. a.

- Problematisch ist vor allem aber das rechtzeitige Erkennen eines Alkohol­entzugs-Syndroms mit Delir: Störung der Aufmerksamkeit bis zur Bewusst­seinstrübung, seelisch-körperliche Beeinträchtigungen (z. B. unruhig, nervös, fahrig, hektisch), gestörter Schlaf-Wach-Rhythmus und schließlich Zittern (vorgehaltene Hände mit gespeizten Fingern, herausgestrecke Zunge und leicht geschlossene Augenlider), ferner Schwitzen, Übelkeit, Würgen und Erbrechen, Herzrasen, Bluthochdruck, ausgeprägte Unruhe, Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Krankheitsgefühl oder Schwäche, zuletzt Seh-, Tast- und Hör-Sinnestäuschungen und epileptische Anfälle.

Medikamenten-Abhängigkeit

Ein besonderes Problem, nicht zuletzt, in den westlichen Industrie-Nationen wahrscheinlich vor allem im höheren Lebensalter, sind die Beruhigungs- und Schlafmittel (Tranquilizer, Sedativa, Hypnotika, insbesondere vom Typ der Benzodiazepine). Betroffen sollen zwei Prozent der Bevölkerung sein, allerdings bei hoher Dunkelziffer. Es überwiegt das weibliche Geschlecht deutlich. Man vermutet, dass fast die Hälfte aller jener Personen, die Benzodiazepine einnehmen, auch davon abhängig sind. – Und hier wieder vor allem das höhere Lebensalter.

Folgenschwer, was das rechtzeitige Erkennen anbelangt, ist dabei vor allem die so genannte Niedrig-Dosis-Abhängigkeit: keine warnende Toleranz-Entwicklung und fortdauernde Dosis-Erhöhung (und deshalb auch nicht der ständige Wunsch nach einem entsprechenden Rezept, was schließlich auffallen würde; die eher gering anmutende Dosis reicht ja länger). Dafür findet sich – wiederum vor allem im höheren Lebensalter – nur selten eine so genannte Hochdosis-Abhängigkeit, die die üblichen therapeutischen Dosen weit überschreitet und auffallend häufig ein neues Rezept braucht.

Die wichtigsten Hinweise auf eine Intoxikation durch Beruhigungs- und Schlafmittel sind auf seelischer Ebene verschiedene Verhaltensauffälligkeiten, vor allem eine Stimmungslabilität bis zur affektiven (Gemüts-)Enthemmtheit, die Beeinträchtigung von Urteilsvermögen und Kritikfähigkeit und eine ausgeprägte Dämpfung. Neurologisch irritieren verwaschene Sprache, Koordinationsstörungen, unsicherer Gang bis hin zu kognitiven (geistigen) und mnestischen (Erinnerungs-)Störungen sowie eine riskante Atemstörung (Fachausdruck: Atemdepression). Außerdem eine verminderte Körpertemperatur.

Beim Entzug, und das ist fast noch „heimtückischer“, fallen Symptome auf, die viele Ursachen haben können: Übelkeit und Erbrechen, Unwohlsein und Schwäche, Schweißausbrüche, Herzrasen, Blutdruckabfall, grobes Zittern, Schlafstörungen, epileptische Anfälle, Körpergefühlsstörungen, unklare Schmerzen, Krämpfe und Muskelzuckungen; und in seelischer Hinsicht Angst, Niedergeschlagenheit, Reizbarkeit und das Gefühl, man sei nicht mehr derselbe Mensch (Fachbegriff: Depersonalisation) bzw. das Umfeld verändere sich eigentümlich (Derealisation). Am Schluss droht ein Delir.

Leider kommen solche Patienten, wiederum nicht zuletzt im höheren Lebensalter, nur selten in fachärztliche Behandlung. Und dies nicht etwa, weil es die nicht gäbe, sondern weil sie es durchaus geschickt zu vermeiden wissen – sehr zu ihrem eigenen Schaden.

ANGSTSTÖRUNG

Angststörungen, z. B. Phobien, die Generalisierte Angststörung oder die Panikattacken u. a. werden immer häufiger (diagnostiziert). Einzelheiten siehe die entsprechenden Kapitel in dieser Serie.

Auch im höheren Lebensalter nehmen sie zu. Man spricht von zwei bis fünf Prozent.

Angststörungen können die Lebensqualität erheblich beeinträchtigen und – besonders problematisch für die Älteren – die Alltags-Kompetenz nachhaltig einschränken. Vor allem Rückzug und damit Isolationsgefahr sind ein charakteristisches Merkmal. Sie sind im höheren Lebensalter nicht nur eher als sonst zu befürchten, die leiten auch einen unseligen Teufelskreis ein.

Wie bei der Depression kommen die Betroffenen am ehesten mit einem körperlichen Beschwerdebild zum Arzt, etwa einem organisch nicht erklärbaren diffusen Schwindel bzw. einer schwindeligen Benommenheit. Dagegen sind akute Bilder, die eine stationäre Übernahme erfordern, relativ selten.

Ein besonderes Problem ist die Überschneidung mit depressiven Störungen, zumal die meisten Depressiven auch Angst-Symptome kennen (z. B. Panikattacken zu Beginn) und viele Angststörungen im Laufe der Zeit mit einer depressiv-resignierten Einstellung enden. Während Angst und Depression zusammen zwar auch doppelt qualvoll sein können, dafür aber umso auffälliger sind, ist die Co-Morbidität einer Angststörung mit begleitender Abhängigkeit von psychotropen Substanzen erheblich schwerer zu diagnostizieren. Hier sollte man vor allem auf Einnahme bzw. schließlich Missbrauch und Abhängigkeit von Benzodiazepin-Tranquilizern (sowie Schlafmitteln) und Alkohol achten. Beide können ja angst-mildernd wirken – aber um den bekannten Preis, der auch oder gerade im höheren Lebensalter immer häufiger und vor allem folgenschwerer auszufallen pflegt.

Therapeutisch bieten sich bei den Angststörungen im höheren Lebensalter deshalb psychotherapeutische Maßnahmen an, vor allem eine begleitende stützende Gesprächspsychotherapie. Auch wirkt die tägliche körperliche Aktivität (z. B. Gesundmarsch bei Tageslicht) angst-lösend. Eine am besten fachärztlich geleitete medikamentöse Behandlung ist mit den heutigen Möglichkeiten ebenfalls erfolgreich.

BESONDERE PROBLEM-SITUATIONEN IM HÖHEREN LEBENSALTER

Zu den besonderen Problem-Situationen mit entsprechenden Folgen im höheren Lebensalter gehören Verwahrlosung und Misshandlung. Im Einzelnen:

- Die Verwahrlosung ist charakterisiert durch hygienisch unakzeptable Wohnbedingungen, begleitet von massiver Selbstvernachlässigung mit der Folge extremer körperlicher Verschmutzung, zunehmenden ernährungsbedingungen Defiziten und der Verstärkung im Grund behandelbarer Erkrankungen. Dazu u. U. erhebliche Beeinträchtigungen des Umfeldes (Lärm, Geruch, Anblick u. a.).

Einer Verwahrlosung können verschiedene psychische Störungen zu Grund liegen. An erster Stelle Psychosen, aber auch Depressionen, organische Psychosyndrome (seelische Störungen durch körperliche Erkrankungen), Suchterkrankungen und Persönlichkeitsstörungen.

Im Grunde müsste in unserer Zeit und Gesellschaft niemand in eine Verwahrlosungs-Situation geraten, an Hilfen jeglicher Art mangelt es nicht. In vielen Fällen lehnen die Betroffenen aber jegliches Unterstützungs-Angebot ab, so dass es dann u. U. zu rechtlichen Schritten kommt. Kurzfristige Interventionen sind dann erforderlich, wenn akute und vor allem bedrohliche körperliche Probleme folgen, z. B. Exsikkose (Austrocknung), Infektionen u. a. Auch hier kann es dann notwendig werden, mittels Unterbringungsgesetz die sofortige Krankenhausbehandlung in die Wege zu leiten.

- Neben Misshandlungen im engeren Sinne durch körperliche Gewalt sind es im höheren Lebensalter vor allem Situationen, in denen die Grundbedürfnisse hilfsbedürftiger alter Menschen vernachlässigt werden. Nicht selten sind die Opfer psychisch krank, besonders von dementiellen Syndromen betroffen (z. B. Alzheimer-Demenz).

Selbst für Fachleute ist es mitunter schwierig, oft unmöglich, das notwendige sofortige und vor allem klare Bild über den Ablauf der Geschehnisse zu bekommen. Handelt es sich um Fremd-Verschulden, muss man noch zurückhaltender sein, bevor man mögliche Täter mit entsprechendem Verdacht konfrontiert. Wichtig ist es deshalb für den Arzt eine sorgfältige Befund-Dokumentation zu erstellen.

Bei konkreten Verdachtsmomenten und dringlicher Gefährdungs-Situation ist eine stationäre Aufnahme häufig nicht zu umgehen. In der Klinik kann dann mit Hilfe der Sozialen Dienste in der Regel eine zumindest befriedigende Lösung erarbeitet werden. Wird die stationäre Aufnahme verweigert (z. B. von Patient oder betreuenden Personen), wird die Einschaltung juristischer Institutionen nicht zu umgehen sein (von der Polizei bis zum Vormundschaftsgericht).

SCHLUSSFOLGERUNG

Akute psychische Erkrankungen im höheren Lebensalter sind ein schwieriges Kapitel, wie man sich denken kann und wie die vorangegangenen Beispiele beweisen. Gerade hier ist aber die Aufklärung besonders wichtig, und zwar nicht der Betroffenen selber, sondern auch und ggf. vor allem ihres Umfeldes.

Die meisten sind willig, aber es fehlt ihnen der Blick für das Grenzwertige, ja sogar eindeutig Krankhafte bis Bedrohliche. Hier gilt es aufzuklären, zu informieren, zu schulen, der gute Wille ist ja meist vorhanden.

Der spezielle Aspekt an diesen Situationen ist ja auch die gerne verdrängte Erkenntnis, dass man morgen ggf. selber zu den Opfern von Krankheit oder psychosozialer Bedrängnis werden kann. Und deshalb ist eine guter Kenntnisstand die Garantie für Aufmerksamkeit, Trost, Hilfe und Rettung im Bedarfsfall.

LITERATUR

Überaus bedeutsames Thema, in der Zukunft immer wichtiger werdend. Nachfolgend ein Auszug deutschsprachiger Bücher der Autoren, die bei diesem komplexen Thema gezielt weiterhelfen:

Adler, G. : Paranoide Störungen im höheren Lebensalter. Schattauer-Verlag, Stuttgart 2001

Benkert, O., H. Hippius : Kompendium der Psychiatrischen Pharmakotherapie. Springer-Verlag, Berlin-Heidelberg-New York 2007

Bergener, M. u. Mitarb. (Hrsg.) : Gerontopsychiatrie – Grundlagen, Klinik und Praxis. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 2005

DGPPN (Hrsg) : Praxisleitlinien in Psychiatrie und Psychotherapie. Band I: Behandlungsleitlinie Schizophrenie. Steinkopff-Verlag, Darmstadt 2006

Förstl, H. (Hrsg.) : Lehrbuch der Gerontopsychiatrie. Thieme-Verlag, Stuttgart-New York 2003

Gutzmann, H., S. Zank : Demenzielle Erkrankungen. Kohlhammer-Verlag, Stuttgart 2005

Nikolaus, T. u. Mitarb. (Hrsg.) : Klinische Geriatrie. Springer-Verlag, Berlin-Heidelberg-New York 2000

Günnewig, Th., F. Erbguth (Hrsg.) : Praktische Neurogeriatrie. Kohlhammer-Verlag, Stuttgart 2006

Schmauß, M. : Psychopharmakotherapie für ältere Menschen. UNI-MED-Verlag, Bremen 2003

Wächtler, C. : Wächtler, C. Thieme-Verlag, Stuttgart-New York 2003

Wallesch, C.-W., H. Förstl (Hrsg.) : Demenz. Thieme-Verlag, Stuttgart-New York 2005

Wolfersdorf, M., M. Schüler : Depressionen im Alter. Kohlhammer-Verlag, Stuttgart 2005

Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise.
Bei persönlichen Anliegen fragen Sie bitte Ihren Arzt.
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