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GEMEINSAME PSYCHOTISCHE STÖRUNG (FOLIE À DEUX)

Geistesstörung zu zweit - induzierte Psychose - induzierte wahnhafte Störung - induzierte paranoide Störung - symbiontische Psychose - "psychotische Ansteckung" - "psychotische Epidemie"

Die gemeinsame psychotische Störung, auch als induzierte wahnhafte Störung oder Folie à deux bezeichnet, ist die psychotische Ansteckung einer geistesgesunden, in der Regel aber seelisch labilen Person durch einen Psychose-Erkrankten. Meist handelt es sich um Verwandte oder Lebenspartner in einem sozial isolierten oder sonst wie beeinträchtigten Umfeld, die schließlich denselben Wahn oder das gleiche Wahnsystem teilen und sich im Laufe der Zeit in dieser Überzeugung unkorrigierbar bestärken. Dabei gibt es charakteristische Unterschiede zwischen dem aktiven, wahn-induzierenden sowie passiven Partner. Die Heilungsaussichten sind begrenzt, besonders ohne fachärztliche Behandlung (und vor allem antipsychotisch wirkenden Neuroleptika). Nachfolgend eine komprimierte Übersicht.

Folie à deux (französisch: Geistesstörung zu zweit) heißt, dass eine im Allgemeinen geistesgesunde Person die Wahnvorstellungen eines Psychose-Erkrankten (Geisteskranken) übernimmt. Damit teilen sich zwei (oder gelegentlich auch mehr) Menschen denselben Wahn oder das gleiche Wahnsystem und bestärken sich nach und nach so in dieser Überzeugung, dass zuletzt ein chronischer (dauerhafter) Krankheitsverlauf droht.

Die Möglichkeit einer solchen "psychotischen Infektion" ist seit langem bekannt (früher als "infektiöses Irresein", lateinisch: "contagio psychica", bezeichnet).

Heute verwendet man gemäß den modernen Klassifikationen die bedeutungsgleichen Begriffe Gemeinsame Psychotische Störung (nach dem DSM-IV der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung - APA) bzw. Induzierte wahnhafte Störung (nach der ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation - WHO) und nur noch selten die alte Bezeichnung Folie à deux. Manchmal werden aber auch noch andere Begriffe verwendet (siehe oben). Sie gelten inzwischen nicht nur für das gemeinsame Auftreten psychotischer und/oder nicht-psychotischer Geistesstörungen von zwei Personen, sie werden auch auf die Wahn-Induktion (wahnhafte Beeinflussung) auf weitere Familienmitglieder ("folie à famille") oder gar größere Gruppen von Betroffenen ausgedehnt ("psychische Epidemie").

Was ist eine Psychose?

Eine Psychose ist eine seelische Störung, bei der die Beeinträchtigung der psychischen Funktionen ein solches Ausmaß erreicht hat, dass dadurch Realitätsbezug, Einsicht und Fähigkeiten zu sehr gestört sind, um einigen der üblichen Lebensanforderungen noch zu entsprechen (Definition der Weltgesundheitsorganisation - WHO).

Vorkommen der gemeinsamen psychotischen bzw. induzierten wahnhaften Störung

Nach den bisherigen Erkenntnissen kommt die induzierte wahnhafte Störung nur selten vor - oder treffender: sie wird nur selten entdeckt und diagnostiziert und noch seltener gezielt behandelt. Was weiß man darüber?

Frauen sollen häufiger betroffen sein als Männer, vor allem als passiver Partner. Alle Altersklassen (früher meinte man, es seien vor allem 20 bis 30-Jährige überdurchschnittlich betroffen).

Der Verlauf droht in der Regel chronisch (dauerhaft) zu werden. Je länger die gemeinsame psychotische Störung, desto schlechter die Heilungsaussichten, falls man sich überhaupt zu einer Therapie entschließen konnte (siehe unten).

Oft handelt es sich um Blutsverwandte (also Schwestern, Brüder, Mütter, Väter, Töchter, Söhne) sowie (besonders weibliche Ehe-)Partner. Möglich sind aber auch sonstige Verwandte, Freunde, Nachbarn, Anhänger u.a. Das Alter hängt von der Zusammensetzung des Paares bzw. der Gruppe ab. Sind es nur zwei Betroffene, ist es meist ähnlich.

Häufig findet sich auch eine soziale Isolation: einsamer Wohnort, sprachunkundig in fremder Umgebung, Behinderte oder Kranke, Emigranten, "Sozialfälle" usw. Oft untere soziale Schichten.

Nicht selten ist auch eine genetische Prädisposition für Psychosen (erbliche Belastung für Geisteskrankheiten), und zwar nicht nur beim aktiven wahn-induzierenden, sondern auch beim passiven Partner.

Oftmals lassen sich auch sogenannte schizoide Züge erkennen: Das ist eine Wesensart oder zumindest Charakterzüge, die der Schizophrenie ähnlich sind: z.B. kühl, ungesellig, zurückgezogen, ohne Wärme, überempfindlich, wenig herzlich, ggf. unberechenbar, unbeeinflussbar, bisweilen auch unerwartete Gefühlsausbrüche.

Wie unterscheiden sich aktiver und passiver Partner?

· Induzierende Person (aktiver Partner, "Induzierer", "Primärfall"): eher aktiv, sthenisch (kraftvoll, zäh, beharrlich, ggf. hochmütig, rücksichtslos oder gar fanatisch), dabei u. U. sensitiv (überempfindlich, selbstunsicher, leicht kränkbar), in der entsprechenden zwischenmenschlichen Beziehung auf jeden Fall dominierend.

Bei den wahnhaften Überzeugungen handelt es sich in der Regel um Verfolgungs-, Beeinträchtigungs-, seltener religiöse oder querulatorische Wahnzustände. Sie können leichter Natur sein, pflegen aber in der Regel eher heftig und bizarr auszufallen. Meist sind sie negativer, also belastender oder bedrohender Art (feindliche Mächte, Bespitzelung, Verfolgung, Schädigung u.a.). Mitunter auch scheinbar erfreulich bis hin zum Größenwahn (finanziell, politisch, künstlerisch, beruflich, sexuell usw.). Am Ende steht nicht selten ein regelrecht ausgebautes Wahnsystem (siehe auch das Kapitel Wahn).

Beim wahn-induzierenden, aktiven Partner handelt es sich meist um eine vorbestehende Geisteskrankheit. In der Regel lautet die psychiatrische Diagnose: paranoide (-halluzinatorische) Schizophrenie mit formalen Denkstörungen, Ichstörungen und Autismus sowie ggf. Sinnestäuschungen (siehe die entsprechenden Stichworte).

Etwas seltener kann es sich aber auch um eine wahnhafte Störung oder um eine wahnhafte affektive Störungen, also eine wahnhafte Depression oder eine sogenannte (wahnhaft) "überkochende" Manie handeln (Einzelheiten siehe die entsprechenden Kapitel).

Die Heilungsaussichten (Prognose) pflegen mäßig bis schlecht zu sein. Dies gilt auch für die sogenannte soziale Heilung, d.h. die Fähigkeit, sich zwischenmenschlich, beruflich und gesellschaftlich einigermaßen zu integrieren.

· Induzierte Person (passiver Partner, der das Wahnsystem übernimmt): eher (aber nicht grundsätzlich!) passiv, indifferent und asthenisch: kraftlos, ohne Spannkraft und Ausdauer, oft müde, erschöpft und erholungsbedürftig, empfindlich, ängstlich, rasch verstimmbar, von nicht objektivierbaren vegetativen Beschwerden geplagt usw.

Der passive Partner, meist durch Blutsverwandtschaft oder Heirat verbunden und seit längerer Zeit mit dem aktiven Partner zusammenlebend, manchmal sozial isoliert, versucht sich in der Regel dieser Beziehung anzupassen (siehe psychologische Aspekte). Häufig ist er unterintelligent oder weniger intelligent als der aktive Teil (aber nicht immer). Außer den übernommenen Wahnideen, bis hin zum ausgebauten Wahnsystem, liegen jedoch keine formalen Denkstörungen, keine Ichstörung, kein Autismus vor wie beim aktiven Partner (Erklärungen siehe das Kapitel über die Schizophrenien). Deshalb sind beim passiven Partner die Heilungsaussichten bezüglich wirklicher Heilung befriedigend bis gut, wenn er in Behandlung kommt. Am günstigsten natürlich nach konsequenter Trennung vom wahn-induzierenden Partner bzw. wenigstens nach dessen erfolgreicher Behandlung.

Psychologische Aspekte der gemeinsamen psychotischen Störung (Folie à deux)

Zu den psychologischen Hintergründen einer solchen Abhängigkeit gibt es unterschiedliche Ansichten. Beispiele: reine Nachahmung; aus Sympathie heraus; als Folge einer Beziehung aus dominierendem und sich unterwerfendem Partner; als "Lernprozess" (siehe unten); als mehr oder weniger bewusster Versuch, die eigene kleine Gemeinschaft zu retten. Am plausibelsten: Der induzierende, wahnhaft gewordene (paranoide) Kranke droht durch seine isolierende Wahnwelt zu vereinsamen. Er sucht sich einen Partner, der ihn vor der völligen sozialen Entfremdung bewahrt, indem er seine Wahnideen teilt.

Der passive Partner, aufgrund seiner Persönlichkeitsstruktur meist selber nicht vor Isolationsgefahr geschützt, steht nun vor der Alternative: 1. diese ("abstrusen") Ideen abzulehnen und dadurch die Beziehung zu gefährden oder 2. sie erst passiv, mit der Zeit aber auch aktiv anzunehmen oder gar auszubauen. Dadurch entsteht eine sogenannte "Wir-Identität".

Damit versuchen beide Partner die gefürchtete und bedrohlich erlebte Umwelt auf Distanz zu halten, und sei es durch aggressive Abgrenzung, die weitere Angehörige, Freunde, Nachbarn, Behörden u.a. mit Gewalt abwehrt.

Hierbei spielt das jeweilige Wahnthema eine große Rolle. Es bildet eine verlässliche Norm bei sonst ja diffusem, verwirrendem, vielleicht sogar bedrohlichem Umfeld. An einem konkreten Wahnthema, sei es Verfolgungs- oder Größenwahn, kann man sich halbwegs orientieren. Und wenn es zu einem regelrechten Wahnsystem geworden ist, dann ist die scheinbare Sicherheit noch größer, auch wenn es sich aus objektiver Sicht um "abstruse Hirngespinste" handelt. Dies wird umso wichtiger, je mehr die Betroffenen durch entsprechende Reaktionen der Umgebung in die Enge bedrängt werden, was ihnen nur die Richtigkeit ihrer Vorstellungen bestätigt.

Zuletzt entsteht als Teufelskreis eine sogenannte "Wahnmühle", aus der die Betroffenen ohne fachliche Hilfe nicht mehr herauszukommen drohen.

Therapie der gemeinsamen psychotischen Störung (Folie à deux)

Die gemeinsame psychotische Störung ist relativ selten und kommt noch seltener in Behandlung. Es gibt aber bisher ohnehin kein allgemein gültiges Therapie-Konzept. Eine reine Trennung ohne psychotherapeutische und vor allem pharmakotherapeutische Therapie (antipsychotisch wirksame Neuroleptika - siehe diese) bewirken beim aktiven (wahn-induzierenden) Patienten nichts oder nur eine Verschlechterung. Schließlich handelt es sich hier meist um eine schizophrene, bisweilen auch um eine affektive Psychose (z.B. wahnhafte Depression oder wahnhafte Manie).

Beim passiven Partner erreicht man durch reine Trennung mitunter eine Besserung. Oft ist aber auch damit keine dauerhafte Zustandsänderung verbunden, bisweilen auch hier eher eine Verschlechterung.

Am erfolgreichsten ist die getrennte stationäre Aufnahme in einer (oder zwei verschiedenen) psychiatrischen Fachklinik(en) mit einer Kombination aus Psycho- und Soziotherapie und vor allem Pharmakotherapie mit den erwähnten Neuroleptika. Anschließend ambulante Nachbetreuung mit fortlaufender psychotherapeutischer und vor allem soziotherapeutischer Führung sowie länger dauernder neuroleptischer Medikation.

Der Erfolg hängt allerdings von der Mitarbeit der Patienten ab, die nur selten freiwillig und konsequent gegeben ist, vor allem beim aktiven Kranken. So bleiben die Heilungsaussichten gesamthaft eher ungünstig.

Literatur

Meist wissenschaftliche Publikationen. Beispiele:

APA: Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen - DSM-IV. Hogrefe-Verlag für Psychologie, Göttingen-Bern-Toronto-Seattle 1998.

Caduff, F, T. Hubschmid: Folie à deux. Nervenarzt 66 (1995) 73

Scharfetter. C.: Symbiotische Psychosen. Huber, Bern 1970

WHO: Internationale Klassifikation psychischer Störungen - ICD-10. Verlag Hans Huber, Bern-Göttingen-Toronto 1993

Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise.
Bei persönlichen Anliegen fragen Sie bitte Ihren Arzt.
Beachten Sie deshalb bitte auch unseren Haftungsausschluss (s. Impressum).