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GESICHTS-BLINDHEIT (PROSOPAGNOSIE)

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Wenn man fremde Gesichter nicht erkennen, zuordnen und sich merken kann

Das gilt für alle Menschen: Der erste Blick zielt auf das Gesicht. Dort versucht man den Fremden einzuordnen und liest bei einem Bekannten alles ab, was im zwischenmenschlichen Bereich zu beachten ist. Vor allem aber wird bei Letzterem sofort eines deutlich: wer ist wer.

Das ist so selbstverständlich, dass man sich darüber keine Gedanken zu machen pflegt. Aber selbstverständlich ist praktisch nichts auf dieser Erde. So auch hier. Es gibt nämlich eine Krankheit (so müsste man es eigentlich zutreffend bezeichnen), zumindest aber ein zwischenmenschliches Defizit, das man Gesichts-Blindheit nennt (Fachbegriff: Prosopagnosie). Hier ist es dem Betroffenen – entweder durch einen erworbenen Gehirnschaden oder angeboren – unmöglich (geworden), das jeweilige Gesicht zuzuordnen. Alle sehen plötzlich gleich fremd aus, selbst Eltern, Partner, Kinder, Freunde, Bekannte, Mitarbeiter u. a.

Die Folgen kann man sich denken, wenn man ständig (und nicht nur einmal, weil man in Gedanken verloren oder zerstreut sein könnte) an seinen vertrauten Mitmenschen „achtlos, desinteressiert, ja arrogant oder unerzogen“ vorbeiläuft, so das verärgerte Urteil des ahnungslosen Umfelds.

Was ist das für ein Leiden (im wahrsten Sinne des Wortes, denn dazu wird es notgedrungen für seine Opfer), woher kommt es, und vor allem: kann man überhaupt etwas tun?

Dazu nachfolgend eine kurz gefasste Übersicht.

Können Sie sich vorstellen, dass ein Mensch fremde Gesichter nicht erkennen kann? Und nicht nur fremde, ggf. sogar die des engsten Umfeldes, ja, der eigenen Familie bis hin zu Vater, Mutter und Geschwistern? Das ist im Grunde kaum vorstellbar. Schließlich ist das Gesicht der erste „Blick-Punkt“, auf den man sich zwischenmenschlich konzentriert, nach dem man den anderen erkannt hat und dann zuordnet, abschätzt, weiterhin beobachtet, kurz seine eigene Position ausrichtet. Wenn man so will: die Grundlage zwischenmenschlichen Kontaktes, Beisammenseins, letztlich Überlebens (wenn man nicht gerade in unserer Zeit und Gesellschaft leben darf, vor Tausenden von Jahren dürfte dies ggf. folgenschwerer gewesen sein).

Die Einleitung legt schon nahe: Es gibt also eine solche Gesichts-Blindheit (Fachbegriff: Prosopagnosie, aus dem griech.: Prosopon = Gesicht und Agnosia = Nicht-Erkennen). Sie gehört in das Fachgebiet der Neurologie, die sich mit den Störungen des Nervenssystems, vor allem des Gehirns befasst bzw. konkreter der Neuropsychologie, die krankhafte Veränderungen durch Gehirn-Störungen im Verhalten untersucht und therapeutisch betreut. Die Gesichts-Blindheit ist zwar eine ungewöhnliche Beeinträchtigung, die man sich fast nicht vorstellen kann, aber offenbar nicht so selten. Genaue Zahlen gibt es aber nicht.

Um was handelt es sich und vor allem welche Folgen hat es, nicht zuletzt psychosozial und schließlich seelisch? Nachfolgend eine kurz gefasste Schilderung, die bei Interesse durch einen größeren Übersichts-Beitrag in dieser Serie ergänzt werden kann.

Erworbene und angeborene Gesichts-Blindheit

Jeder kann sich Gesichter merken, Hunderte im persönlichen Umfeld, ggf. Tausende durch die Medien. Und nicht nur das. Mit den Gesichtern verbindet sich auch deren Biographie: wer ist wer. Das ist – so die Experten – eine unglaubliche Leistung, die bisher kein technisches System nachbilden kann.

Wer diese Fähigkeit hat, und das sind fast alle, dem fällt das nicht weiter auf. Doch dass es auch Ausnahmen gibt, wurde bereits vor 2.000 Jahren, also in der Antike bekannt und beschrieben. Wissenschaftlich konkret allerdings erst Mitte des 20. Jahrhunderts. Damals ging es vor allem um die Opfer einer Hirnverletzung. Inzwischen weiß man mehr (wenngleich leider immer noch nicht genug – s. u.), vor allem dass es zwei Formen der Prosopagnosie gibt:

  1. Die erworbene Prosopagnosie, beispielsweise nach einem Gehirnschaden durch schwere Schädel-Hirnverletzung, aber auch Herz-Kreislaufstörungen oder Schlaganfall. Betroffen ist offenbar eine ganz bestimmte Gehirn-Region; allerdings besteht hier zur völligen Abklärung des Phänomens noch erheblicher Forschungsbedarf, wie es die Experten nennen.

Für die Opfer nach Unfall oder Erkrankung ist auf jeden Fall eines neu – und erheblich behindernd bis peinlich: Alle Gesichter sehen plötzlich fremd aus. Selbst Partner, Eltern, Kinder tragen auf einmal „unbekannte Gesichter“ (die man sich jetzt mit sonst völlig entbehrlichen Zusatz-Informationen merken muss – s. u.). Wem sich so unerwartet das Umfeld massiv verändert, der ist vom Schicksal schon schwer heimgesucht.

Ähnliches gilt für die zweite Form, wobei diese Menschen gar nichts anderes kannten. Gemeint ist

  1. die angeborene Prosopagnosie: Schon als kleines Kind erkennen sie nicht einmal Vater, Geschwister oder gar Mutter an ihren Gesichtern. Dafür orientieren sich dafür an deren Stimme, Figur, der Art sich zu bewegen, der Kleidung (was natürlich ständig wechselt) usw. Das Gesicht, der Mittelpunkt wirklichen Kontakts, hat für sie keine besondere Bedeutung. Das kann unangenehme Folgen haben (s. u.). Dafür leiden sie aber weniger ausgeprägt darunter, oder besser: haben sich eher damit abgefunden, denn sie kennen ja nichts anderes.

Die angeborene Form ist offenbar häufiger als bisher angenommen, wie neue wissenschaftliche Erkenntnisse ergaben.

Die Gesichts-Blindheit im Alltag

Menschen mit einer Prosopagnosie leiden also nicht unter einem schlechten Gedächtnis oder unter ausgeprägter Zerstreutheit, wie man annehmen möchte, sondern unter einer konkreten Teilleistungs-Schwäche, wie es die Experten nennen, und die ist entweder erworben oder angeboren. Wie äußert sich dies?

Es gibt viele (z. T. leidlich humorvolle) Schilderungen mit diesem Phänomen, man kann es sich denken. In der Familie, in der Nachbarschaft und im engerem Freundeskreis hat man sich weitgehend daran gewöhnt, zumal einige „Tricks“ dabei helfen (s. u.). Aber „draußen“? Dort laufen die Betreffenden durch die Straßen an ihren Bekannten, ja Freunden und Verwandten vorbei, sie erkennen niemand, und wenn sie sich noch so große Mühe geben (wobei allerdings die erwähnten Tricks den gröbsten Schaden einzugrenzen helfen). Leider wiederholen sich immer wieder die gleichen Konsequenzen, nämlich:

Prosopagnosie-Patienten werden häufig (wenngleich nicht zutreffend oder gerecht) als gleichgültig, unaufmerksam, zerstreut, desinteressiert, ja mitunter arrogant, „stoffelig“, ungebildet, unerzogen, im besten Fall stimmungslabil, im schlechtesten als unsozial eingestuft.

Was ihnen wenigstens zumeist gelingt: Sie erkennen Stimmungen wie Furcht oder Ärger anhand der Mimik und auch ob ein Gesicht attraktiv ist. Aber das ist nicht viel, wenn das Entscheidende fehlt: wer ist wer?

Das geht schon im Kindesgarten los und setzt sich in der Schule fort: Wenn man seine Kameraden nicht mehr erkennt, mit denen man sich doch heute unterhalten hat und morgen scheinbar achtlos an ihnen vorbeiläuft, das hat Folgen. Selbst bei gutem Willen von beiden Seiten werden sich damit kaum dauerhafte Kontakte knüpfen lassen.

So fühlen sich vor allem die Kinder mit Prosopagnosie nicht nur unwohl, sondern auch unsicher, schauen beispielsweise ihren Gesprächspartnern nur selten in die Augen oder scheinen durch sie hindurchzublicken, weil ihnen dieses Gesicht keine interessanten oder zumindest wegweisenden Informationen liefert („warum soll man auch jemand offensichtlich Fremdes anstarren…?“).

Nicht wenige ziehen sich zurück, vereinsamen oder sind isolations-gefährdet. Denn auch später bessert sich der Zustand ja nicht. Eine Therapie ist nicht bekannt; außer einigen „Überlebens-Hilfen“ gibt es kaum Möglichkeiten, halbwegs unkritisiert durchs Leben zu kommen. Auch später werden sie also Arbeitskollegen, Vorgesetzte(!) u. a. nicht erkennen, es sei denn an bestimmten Merkmalen, sofern diese hilfreich immer wieder auftauchen.

Solche Erkennungs-Strategien, die das Einprägen charakteristischer oder gar unveränderlicher Merkmale erleichtert, um diese „Gesichter-Zuordnungs-Störung“ halbwegs folgenlos zu gestalten, solche Merkmale sind beispielsweise Wimpern, Hände, Gangart, Zahnstellung, Haarschnitt oder -ansatz, Ohren, Stimme, ggf. Uhr, bevorzugte Kleidungsstücke u. a.

Eltern und Lehrer können beim Erlernen solcher Strategien gezielt unterstützen, nämlich durch Fotos von Klassenkameraden, die mit Namen versehen sind (vom Patienten rasch „nachzuschlagen“ oder im (Klassen-)Zimmer aufgehängt), mitunter auch durch Memorys plus Foto, das Tragen von Ansteckern mit Symbolen u. a. Aber: Welch ein Aufwand und ob derlei auch nachhaltig vom gleichaltrigen Umfeld geduldig und verständnisvoll mitgetragen wird, dauerhaft?

Liegt ein Asperger-Syndrom oder Autismus vor?

Die Leser dieser Serie fühlen sich bei diesen Zeilen an das umfangreiche Kapitel über das Asperger-Syndrom mit seinen Autismus-Hinweisen erinnert. Und in der Tat geraten Patienten mit der „Gesichter-Zuordnungs-Störung“ der Prosopagnosie sogar bei Experten gelegentlich durch entsprechende Fehl-Diagnosen in diesen Verdacht (wobei aber Prosopagnosie-Patienten den Gefühls-Gehalt von Gesichtern ohne Schwierigkeiten ablesen können, ganz anders als Autisten).

Es ist aber bisher nicht erwiesen, dass diese beiden Krankheitsbilder häufiger zusammen vorkommen oder etwas miteinander zu tun haben. Doch auch hier gibt es noch Forschungsbedarf.

Was soll man tun?

Die Prosopagnosie ist ein Leiden, das offenbar nicht so selten ist (genaue Zahlen liegen nicht vor, Schätzungen liegen aber deutlich über dem, was man bisher annahm). Die Ursachen sind noch unbekannt. Zum einen können es – wie erwähnt – entsprechende Schädigungs-Folgen sein (s. o.), zum anderen ein Erbfaktor.

Das Erkennen von Gesichtern gehört zum Überleben, auch in unserer Zeit und Gesellschaft. Dass es eine besondere Leistung ist, wird den Gesunden aber erst dann deutlich, wenn sie eine große Zahl von Menschen aus anderen Kulturen sehen (z. B. Asiaten) und sich zugestehen müssen: Hier könnte ich mir niemand merken (was beispielsweise den Asiaten durchaus gleich geht, obwohl uns die umgekehrte Vorstellung, d. h. die können uns auch nicht auseinanderhalten, sehr verwundert).

Besonders Kinder mit Prosopagnosie tun sich also schwer. Konkrete Hilfs-Strategien gibt es zwar, doch die setzen die Unterstützung der anderen voraus (s. o.). Mehr ist bisher nicht möglich. Das aber scheint schon in vielen Fällen zu einer erheblichen Beruhigung der Betroffenen beizutragen, die ja – besonders in jungen Jahren – ängstlich darauf achten müssen, wenigstens die vertrautesten Personen ihres Umfelds nicht zu verlieren, besonders in fremder Umgebung.

Das Wichtigste aber ist – wie so oft – die (Er-)Kenntnis, dass es ein solches Phänomen gibt, teils erblich bedingt, teils schicksalhaft erworben (s. o.). Und vor allem: Schwer zu ertragen für die Betroffenen, zu mancherlei Fehl-Interpretationen Anlass gebend, aber gemeinsam zu meistern. Wie gesagt: Die entsprechende Aufklärung und den damit verbundenen Wissensstand vorausgesetzt, wozu auch diese Kurz-Information beitragen möge (bei Interesse ergänzt durch einen ausführlicheren Beitrag in dieser Serie).

Literatur

Sehr spezifisches Krankheitsbild, das vor allem in der neuropsychologischen Fachliteratur abgehandelt wird, wenngleich auch dort nicht sehr umfangreich. Für weitere Informationen empfehlen sich deshalb jene neurologischen Lehr- und Fachbücher, die auch dieses Phänomen (leider sehr speziell formuliert) abhandeln.

Konkret hilfreich sind allerdings entsprechende alltags-relevante Informationen, im Internet beispielsweise unter folgender Adresse:

www.prosopagnosie.de

Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise.
Bei persönlichen Anliegen fragen Sie bitte Ihren Arzt.
Beachten Sie deshalb bitte auch unseren Haftungsausschluss (s. Impressum).