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IST DIE "NEUE" DEPRESSIONSFORM DES "SISI-SYNDROMS" EINE ESS-STÖRUNG?

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Die Schwermut der Kaiserin Elisabeth von Österreich wissenschaftlich kontrovers diskutiert: Depression oder Magersucht?

Gibt es ein "Sisi-Syndrom", eine besondere Ausprägungsform der Depression, benannt nach der österreichischen Kaiserin Elisabeth: nämlich nur selten als Depression erkannt, weil vor allem innerlich unruhig, rastlos, sprunghaft, freudlos, interesselos, dabei jedoch selbstbewusst, attraktiv, gepflegt, durchaus lebensbejahend und leistungsorientiert, kein jammeriges Klagen. Ungewöhnlich und dabei auffällig ein ausgeprägtes bis überzogenes Gesundheitsbewusstsein mit übermäßig sportlichen Aktivitäten, da beständig in Sorge um das Gewicht, deshalb strikte Ernährungs-Regeln oder gar bedenkliche Diäten. Und der Grund: krankhafte Abhängigkeit des Selbstwertgefühls von Gewicht und vor allem Figur bis hin zur Selbstschädigungs-Neigung. Der Kontakt zum Arzt wird nur wegen körperlicher Beschwerden (durch die Folgen dieser Lebensführung) gesucht, nicht wegen der zugrunde liegenden seelischen Beeinträchtigung, die als Sonderform der Depression diskutiert wurde.

Tatsächlich hat dieses "Sisy-Syndrom" seinerzeit großes Aufsehen erregt, nicht zuletzt durch die Berichterstattung der Massen-Medien. Doch in der Wissenschaft - vor allem weltweit - ist es unbekannt. Es ist ein offenbar deutsches (Medien-)Phänomen, auch wenn an seiner Verbreitung Psychiater, Psychologen und Wissenschafts-Journalisten beteiligt waren.

Dass es ein solches gesundheitliches Leidens-Muster gibt, steht außer Frage. Nur meinen inzwischen die Kritiker, es habe mit einer Depression an sich wenig zu tun, auch wenn dies - mehr oder weniger zielgerichtet - so in Umlauf gebracht wurde. Hier drängt sich eher das (durchaus auch depressive) Erscheinungsbild einer Ess-Störung, einer Magersucht, einer Anorexia nervosa auf.

Nachfolgend deshalb eine kurz gefasste Übersicht zu diesem Thema, wie es derzeit wieder kritisch hinterfragt und mit neuen Überlegungen vielleicht sogar sinnvoll, weil krankheits-verhütend genutzt werden kann.


Erwähnte Fachbegriffe:

"Sisi-Syndrom" - Kaiserin Elisabeth von Österreich - Kaiser Franz-Joseph I - Luigi Luccheni - Kronprinz Rudolph von Österreich - Depression - Ess-Störung - Anorexia nervosa - Magersucht - Bulimie - Zwangsstörung - Angststörung - phobische Ängste - Schlafstörung - Appetitlosigkeit - Weinkrämpfe - Hungerödeme - Ruhelosigkeit - Rastlosigkeit - Über-Aktivität - Sprunghaftigkeit - Freudlosigkeit - Interesselosigkeit - Gewichts-Phobie - Diät-Exzesse - Selbstwertgefühl und Körpergewicht - Selbstschädigung - starre Ernährungs-Regeln - überzogenes Gesundheitsbewusstsein - übermäßige sportliche Ambitionen - krankhafte Sorge um das äußere Erscheinungsbild - rücksichtslose Gewichts-Selbstregulation - selbst-induziertes Erbrechen - Abführmittel-Missbrauch - exzessives Fasten - gestörte Selbst-Wahrnehmung - Body-Maß-Index (BMI) - kalorien-reduzierte Nahrungsmittel - Diuretika-Missbrauch - Purging-Verhalten - ständiges Wiegen - zwanghaftes Abmessen bestimmter Körperpartien - körperliche Anorexie-Folgen: Monatsblutung, Verstopfung, Bauchschmerzen, Kälte-Unverträglichkeit, Mattigkeit, Auszehrung, Blutdruckabfall, Lanugo-Behaarung, Hautblutungen, Ödeme, Bauchspeicheldrüsen-Vergrößerung, Zahnschmelz-Schäden u. a. - "Wassersucht" - exzessive Haar- und Hautpflege - Alterungs-Furcht - Menschenscheu - Spiritismus - Serotonin-Dysbalance - soziale Phobie - körperdysmorphe Störungen - Dysmorphophobie u.a.m.

Nichts ist neu in der Psychiatrie, jener medizinischen Disziplin, die sich um die kranke Seele kümmert, früher deshalb auch als Seelenheilkunde bezeichnet. Das geht schon aus Jahrtausende alten Schilderungen hervor, beispielsweise dem Alten Testament. Bereits dort kann man von schizophrenen Psychosen (die Könige Nebukadnezar und Belsazar), von Depressionen (König Saul), von psychosomatischen Störungen bis hin zu dramatischen seelisch-bedingten Erkrankungen wie psychogene Lähmung, Blindheit u. a. lesen. Und natürlich - meist zwischen den Zeilen - über neurotische fremd- und selbstaggressive Fehlhandlungen.

Und sogar jene modern anmutenden Leiden, die - teils anerkannt, teils noch um ihre wissenschaftliche Akzeptanz ringend wie krankhafte Hyperaktivität (Fachbegriff: Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung), Burnout-Syndrom (erschöpft-verbittert-ausgebrannt) u. a. - sind ebenfalls schon vor langer Zeit beschrieben worden (z. B. der "Zappelphilipp" vor 150 Jahren) und sogar in der hohen Literatur (z. B. die Buddenbrooks von Thomas Mann).

Kurz: "Es gibt nichts Neues unter der Sonne" - auch in der Psychiatrie mit ihren seelischen Störungen.

Das allerdings scheint nicht unwidersprochen zu bleiben, wenn man aufmerksam manche medizinischen und psychologischen Beiträge der Medien studiert. Denn dort wird immer wieder von Neuem berichtet, einschließlich neuer, vielleicht sogar spektakulärer Behandlungsmöglichkeiten - so scheint es. Und manchmal ist an solchen Erkenntnissen auch die Wissenschaft beteiligt, und dann kann es ja eigentlich keine begründeten Zweifel mehr geben. So auch bei einem besonders faszinierenden, wenngleich meist tragischen "neuen" Krankheitsbild, das zudem den Namen einer selbst heute noch interessanten Persönlichkeit aus der Weltgeschichte trägt, nämlich dem "Sisi-Syndrom", einer "spezifischen" Form der Depression, wie sie die Österreichische Kaiserin Elisabeth erlitten haben soll.

Sisi - Kaiserin Elisabeth von Österreich

Mit einer besonderen Form der Depression, nämlich dem "Sisi"-Syndrom bezeichnet man eine depressive Verstimmung, bei der der Betroffene sich seiner gedrückten Grundstimmung und seinen Ängsten nicht hingibt, sondern aktiv dagegen ankämpft (B. Voll).

Elisabeth, geb. 24.12.1837 in München, ermordet 10.09.1898 in Genf. Bayrische Prinzessin; seit 1854 Gemahlin von Kaiser Franz-Joseph I, am Ausgleich mit Ungarn beteiligt, daher in Ungarn beliebt; vom italienischen Anarchisten Luigi Luccheni ermordet.

So die übliche Kurzfassung (z. B. Ploetz - Lexikon der Weltgeschichte).

Als Zusammenfassung aus verschiedenen Biographien lässt sich folgendes Bild in Stichworten erstellen:

Herkunft:
Die Eltern, Herzog Maximilian und seine Frau Ludovika in Bayern, führten mit ihren 8 Kindern ein bescheidenes Leben ohne jedes höfische Zeremoniell, meist in München und am Starnberger See. Mit 15 Jahren Verlobung mit ihrem Cousin, dem jungen Kaiser Franz-Joseph I von Österreich. Dieser sollte eigentlich Elisabeths ältere Schwester Helene heiraten, entschied sich aber für die jüngere. Eigentlich war sie für den jüngeren Bruder des Kaisers bestimmt. Doch politische Interessen rangierten weit vor den jeweiligen Liebesvorstellungen, so auch bei den jüngeren Schwestern. Elisabeth stand ihrem Verlobten zwar nicht ablehnend gegenüber, meinte aber, er würde ihr besser gefallen, wenn er kein Kaiser wäre.

Die Ehe war denn auch nur wenige Jahre glücklich, obwohl Kaiser Franz-Joseph I seine Frau vergötterte und ihr lange Zeit keinen Wunsch abschlug. Doch die Schwierigkeiten der jungen Frau am kaiserlichen Hof zu Wien begannen schon während der Hochzeitsfeierlichkeiten (Panik vor der anstrengenden Gratulationstour?). Rückblickend wird dies bereits als erster Hinweis auf spätere seelische Beeinträchtigungen gedeutet (Verlust des psychischen Gleichgewichts, Angststörung, depressive Verstimmungen, zwanghafte Reaktionen u. a.?).

Schon kurz nach der Heirat zeigten verzweifelte Verse der jungen Kaiserin, dass sie sich eigentlich in einem Kerker gefesselt sah und den Verlust ihrer Freiheit beklagte. Nur widerwillig unterwarf sie sich der Etikette des Kaiserhofs, einige Regeln erkannte sie nie an. Sie litt unter Heimweh und entwickelte nach und nach eine Fülle von Leiden, die bisher nicht an ihr beobachtet worden waren (z. B. phobische Ängste in engen Räumen).

Kurz nach der Eheschließung wurde sie bereits schwanger, was der zarten 16jährigen sehr zu schaffen machte. Die resolute Schwiegermutter riss zudem alle Vorbereitungen und späteren Betreuungs-Maßnahmen an sich, so dass der jungen Kaiserin als Mutter wenig Freiraum blieb. Sie sollte repräsentieren und gebären.

Der Kaiser liebte zwar seine junge Frau, war aber durch die schwierige politische, wirtschaftliche und gelegentlich auch militärische Lage ständig absorbiert und hatte wenig Zeit für seine Familie. Außerdem wagte er sich kaum gegen seine Mutter durchzusetzen.

Beschwerdebild:
1856 kam die zweite Tochter zur Welt, ein Jahr später starb die erstgeborene Tochter. Das führte zu herben Auseinandersetzungen mit der Schwiegermutter und wechselseitigen Vorwürfen. 1858 wurde schließlich der Thronprinz geboren. Danach begannen lang dauernde depressive Verstimmungen und auch ernste Ehekrisen mit wechselseitigem Entfremden (Liebschaften auf beiden Seiten?). Es folgten ein bedrohliches Lungenleiden und wiederholte "Nervenkrisen", die man ihren jetzt immer exzessiveren Hungerkuren anlastete. Deshalb die ärztliche Empfehlung einer Klimaveränderung (Madeira), was sie ein halbes Jahr vom Hof entfernt hielt. Gesundheitlich stabilisiert kam es aber nach ihrer Rückkehr rasch wieder zum alten Leidenszustand: Schlaf- und Appetitlosigkeit, Weinkrämpfe, Fieber, Hustenanfälle, Widerwillen gegen bestimmte Speisen u. a.

Deshalb erneut Klimawechsel, diesmal Korfu. Nach der Rückkehr das gleiche Bild, inzwischen aber auch mit ernsteren körperlichen Beeinträchtigungen (Hungerödeme an den Beinen?). In ihren Depressionen machte sie sich immer häufiger Vorwürfe, dass sie keine gute Ehefrau und Mutter sei. Eine Kur in Bad Kissingen brachte wieder Erfolg, aber auch die ärztliche Diagnose "Wassersucht".

Politisches Engagement:
Nach und nach aber begannen sich Wesen und Zielrichtungen zu ändern: Sie wurde selbstbewusster, setzte ihre Interessen energischer durch, trieb weiterhin viel Sport (einsame Spaziergänge und Ausritte) und schien sich seelisch und körperlich zu stabilisieren (weshalb der Kaiser so manches durchgehen ließ, was an sich für Hof und Politik nicht ratsam schien). Ein Sorgenkind war der Kronprinz, sensibel und häufig kränkelnd und durch die harten Erziehungsmaßnahmen zum Thronfolger an den Rand seiner seelischen und körperlichen Gesundheit gebracht. Elisabeth stellte deshalb ihren Ehemann vor die Alternative: entweder die Erziehung ihrer Kinder in die eigene Hand oder Trennung. Der Kaiser gab nach.

Nun aber ging sie voll in die Offensive. Sie setzte sich nicht nur gegen Ehemann und Schwiegermutter durch, sie engagierte sich auch politisch. Dies kam in der Österreichisch-ungarischen Monarchie vor allem den Ungarn zu Gute, was ihr aber bei den Österreichern keine Freunde verschaffte. Immerhin erreichte sie in kritischer politischer Zeit einen Ausgleich und wurde deshalb 1867 in Budapest zur Königin von Ungarn gekrönt.

Erste Auffälligkeiten:
1868 bekam sie ihr viertes Kind, das sie sofort selber übernahm. Dies wurde ihre beste Zeit, auch äußerlich, zumal sie jetzt ihre strikte Diät lockerte (bisher 50 kg auf 1,72 cm) und dadurch fraulicher, anmutiger und auch selbstsicherer wirkte. Dafür betrieb sie inzwischen mit ihrem in der Tat schönen Haar einen wahren Kult. Es reichte bis zu den Fersen, wurde kastanienbraun gefärbt und mit aufwendigen Verfahren gepflegt (was jeweils einen ganzen Tag in Anspruch genommen habe). Auch das tägliche Frisieren dauerte Stunden. Ihre komplizierten Flechtfrisuren, die sie auf fast allen Portraits trägt, wurden zu ihrem "Markenzeichen". Wenn ihr allerdings ein Haar ausging, dann konnte sie in Zornesausbrüche geraten. Auch die Hautpflege (Gesichtsmasken, Ölbäder, feuchte Wickel) sollten einen Alterungsprozess aufhalten, der sich noch gar nicht abzuzeichnen begann. Auch wurde wieder die schlanke Figur (die berühmte Wespentaille) zum Zentrum ihrer Aufmerksamkeit. Dies alles bestimmte auch ihren Tagesablauf in den kommenden Jahren. Früh beginnend (kaltes Bad, Massage, Turnen, Gymnastik, karges Frühstück), dann Frisieren, Ankleiden, Fechten, Reiten, Spaziergänge bis hin zu Gewaltmärschen, Umkleiden, Spielen mit den Kindern, der kümmerliche Rest Kontakt mit dem Ehemann sowie politische Pflichten.

Wesensänderung:
Im Laufe der Jahre wurden ihre Diäten und körperlichen Exerzitien immer strenger (Turnräume in allen bewohnten Schlössern). Bei den geringsten Alterungs-Hinweisen steigerte sie ihr Trainingsprogramm. Das hielt sie zwar geschmeidig, anmutig und elegant bis zuletzt, dafür wirkte sie aber wie eine "entrückte, unerreichbare Elfenkönigin" und irgendwie ohne Lebensfreude. Nach außen ruhig und hoheitsvoll, innerlich jedoch distanziert (und/oder weil letztlich ohne echtes Selbstbewusstsein). Manchmal wirkte sie auch arrogant und unnahbar, schließlich sogar menschenscheu. Bei entsprechenden Kontakten erlitt sie Schweißausbrüche, auf Spaziergängen versteckte sie ihr Gesicht hinter einem großen Fächer wenn jemand auf sie zukam und änderte ihre Route.

Offene Erkrankung:
Die Jahre 1888/89 gaben dem Ganzen schließlich eine unglückselige Wende: Als Erstes verlobte sich ihre jüngste Tochter (die sie als ihr "einziges Kind" bezeichnete), was sie als großen Verlust empfand. Danach erschoss sich ihr verheirateter Sohn, der Kronprinz Rudolph mit seiner jungen Geliebten (und musste nachträglich durch ein ärztliches Attest als "geisteskrank" erklärt werden, um trotz Selbstmord eine kirchliche Bestattung zu erhalten). In Wirklichkeit litt aber auch er schon seit seiner Jugend an Depressionen, die sich in seiner Situation auch äußerlich noch verstärkten. Zuerst gefasst und "tapfer", kam es schließlich auch bei Kaiserin Elisabeth selber zu schweren Depressionen und einer unkritischen Neigung zu esoterischen Handlungsweisen mit beispielsweise spiritistischen Kontakten (zum verstorbenen Sohn) - und damit zu einer Entfremdung gegenüber ihrem katholischen Glauben. Verstärkt wurde diese unselige Entwicklung durch den Tod weiterer nahestehender Menschen aus ihrem engsten Kreis. Schließlich verschenkte sie sogar ihre gesamte prachtvolle Garderobe und trug bis ans Lebensende Trauerkleider, auf jeden Fall kein farbiges Kleidungsstück mehr.

Mitte 50, inzwischen allein und - mehr oder weniger selber gewünscht bzw. arrangiert - von allen verlassen (einschließlich ihrer verheirateten Lieblingstochter) lebte sie eine asketische Lebensweise und alterte zusehends. Ihre Haut, insbesondere ihr Gesicht wurden alt und faltig ("es gibt nichts Grausigeres als nach und nach zur Mumie zu werden"). Österreich verließ sie nun bei jeder Gelegenheit und wenn sie in Wien war, bewohnte sie nicht mehr die Hofburg sondern eine abgeschiedene Villa. Ansonsten reiste sie mehr oder weniger rastlos umher. Ihre bevorzugten Ziele waren die griechischen Inseln, Süditalien, die Riviera und die Schweiz, wo sie auch mitunter aufwendig bauen ließ, ohne dann aber auch dort längere Zeit zu wohnen.

Das Ende:
In der Presse häuften sich inzwischen Vermutungen über eine angebliche "Geisteskrankheit", nicht zuletzt in Verbindung mit Gerüchten über andere seelisch beeinträchtigte Prominente ihrer Zeit, nämlich ihrem Sohn und dem allseits bekannten menschenscheuen und schwierigen König Ludwig II von Bayern. Gesundheitlich wurden die Diäten wieder bedenklicher (vor allem Milch und Eier, gelegentlich auch Eis). Es drohten ein Herzleiden (geschwollene Knöchel) und Untergewicht. Sie fühlte sich wie "80" und sprach mehrfach vom Tod. Ihr besorgtes und deprimiertes Umfeld empfand sie nur noch als gedrückte Frau.

So sollen es nicht wenige als Erlösung empfunden haben, als sie am 10. September 1898 auf dem Weg zur Schiffsanlegestelle in Genf von dem italienischen Anarchisten Luigi Luccheni mit einer Feile (!) mitten ins Herz gestochen wurde und daran innerlich verblutete.

Nach B. Voll, 1998, u.a.

Aus allen diesen Aspekten heraus gehört Elisabeth, Kaiserin von Österreich, auch heute noch zu den interessantesten Repräsentanten des weiblichen Adels aus führenden europäischen Dynastien, und das will in unserer schnell-lebigen Zeit etwas bedeuten. Fasziniert sind dabei nicht nur bestimmte Kreise, denen man eine "etwas überzogene romantische Einstellung" durchaus nachsehen könnte, nicht zuletzt durch erfolgreiche Spielfilme, Romane und Musicals, angesprochen fühlen sich auch viele Menschen durch das persönliche Schicksal beziehungsweise Leiden der Kaiserin. Und hier setzte vor einigen Jahren auch ein "wissenschaftliches Interesse" an, das inzwischen kritisch geprüft und mahnend hinterfragt wird, nämlich:

Gibt es ein "Sisi-Syndrom" als neue Depressions-Form?

1998 erschien in einer führenden psychiatrischen Fachzeitschrift sowie in einem Organ, das vorwiegend von Allgemeinmedizinern und Internisten gelesen wird die einseitige Anzeige eines international renommierten und erfolgreichen Pharma-Konzerns (inzwischen - wie so häufig - von einem noch größeren Konzern übernommen). Und dort wurde erstmals der Begriff des "Sisi-Syndroms" vorgestellt, und zwar als "Erkrankung aus dem depressiven Formenkreis" (ein Begriff, der nebenbei für schizophrene Psychosen in Fachkreisen geläufig, für Gemütsstörungen wie die Depressionen eher ungewöhnlich ist, man wollte also auf mehreren Ebenen etwas Neues einführen).

Dies hätte aber wohl - beschränkt auf medizinische Fach-Organe und Diskussionen - wahrscheinlich nur wenig Widerhall gefunden und auch keine größere diagnostische und therapeutische Aufmerksamkeit unter der Ärzteschaft erregt. So etwas ist nur möglich über die breite Front aller Medien-Organe, vor allem der wichtigsten bundesdeutschen Tageszeitungen, Zeitschriften, Fernsehmagazine, ergänzt durch Fernsehsendungen und Internet-Seiten, ja Arztromane und den Einsatz entsprechender Gesundheitsanbieter. Das Interesse wuchs - aus naheliegenden Gründen gefördert, zumal zugleich das entscheidende, konkrete Abhilfe schaffende Antidepressivum (also stimmungsaufhellende Psychopharmakon) gleich mitgenannt wurde.

Da solche überwiegend, "Medien-geleiteten Fachinformationen" in Ärztekreisen aber erfahrungsgemäß auf medizinische Skepsis stoßen, und zwar umso mehr, je drängender die scheinbar betroffenen Patienten auf ihrer Selbst-Diagnose und dann ärztlich rezeptierten Behandlung beharren, wurden auch entsprechende Seminare und Pressekonferenzen abgehalten, auf denen dann tatsächlich auch ausgewiesene Depressions-Experten Stellung nahmen - überwiegend konkret und positiv, was diagnostische Basis und therapeutische Möglichkeiten anbelangt. Jetzt zogen dann auch andere medizinische Fachzeitschriften und Internet-Angebote nach. Das "Sisi-Syndrom" schien endlich erkannt, akzeptiert und (hoffentlich) auch richtig behandelt. Inwieweit es sich in Ärztekreisen wirklich etablieren konnte, vor allem wohl bei Allgemeinmedizinern und entsprechend tätigen Internisten, ist unbekannt. Psychiater, Neurologen und Nervenärzte sowie Psychotherapeuten hielten sich wohl eher zurück, jedenfalls nach außen.

Ob es sich für das mit dem "Sisi-Syndrom" in Verbindung gebrachten antidepressiven Arzneimittel gelohnt hat, ist unbekannt, darf aber angenommen werden.

"Sisi-Syndrom" - was heißt das?

Inzwischen ist es ruhiger geworden um dieses Phänomen. Da man es aber immer wieder einmal zu hören bekommt, insbesondere in bestimmten Medien-Beiträgen, begann sich in manchen fachärztlichen Kreisen nicht nur oppositioneller Widerstand, sondern auch wissenschaftliches Interesse an dieser Krankheit zu regen. Um was handelt es sich nun also konkret? Und vor allem: Was hinterfragen bzw. bezweifeln die neuesten Überprüfungen anhand der bisher verfügbaren wissenschaftlichen Studien?

Wie Dr. M. Burgmer, Dr. G. Drisch und Dr. G. Heuft von der Klinik und Poliklinik für Psychosomatik und Psychotherapie des Universitätsklinikums Münster in der Fachzeitschrift Der Nervenarzt 5 (2003) 440 unter dem Titel: Das "Sisi-Syndrom" - eine neue Depression? ausführen, wurde dieses "Phänomen" 1998 wie folgt definiert:

- Das "Sisi-Syndrom" ist eine besondere Ausprägungsform der Depression.

- Im Verlauf des Beschwerdebildes mündet das "Sisi-Syndrom" in eine typische Depression.

- Patienten mit einem "Sisi-Syndrom" werden selten als depressiv erkannt.

- Die Ursache des "Sisi-Syndroms" wird in einer "Serotonin-Dysbalance" vermutet (Anmerkung: Serotonin ist ein Neurotransmitter, ein für die Stimmung und andere wichtige Gemütsregungen verantwortlicher Botenstoff im Stoffwechsel des Zentralen Nervensystems, vor allem bestimmter Gehirnregionen. Ein Dysbalance wäre dann eine Art Gleichgewichtstörung, in diesem Fall ein Zuwenig an diesem entscheidendem Botenstoff).

- Paroxetin ist das Mittel der Wahl zur Behandlung des "Sisi-Syndroms".

Die erste Frage, die sich die Autoren stellten, lautete: Ist das "Sisi-Syndrom" tatsächlich eine nosologische Entität, wie der Fachausdruck heißt, d. h. ein fest umschriebenes und wissenschaftlich anerkanntes Krankheitsbild in der Krankheitslehre, der systematischen Beschreibung der Krankheiten?

Um derlei zu beantworten führt man heute in der Wissenschaft erst einmal eine so genannte Literatur-Recherche durch, sucht also unter den gewünschten Stichworten (hier Sisi-Syndrom u. a.) nach entsprechenden Einträgen in der Weltliteratur (was natürlich heutzutage durch das Internet nur noch eine technische Frage ist und gemessen an früher unvergleichlich schneller, relativ sicher und umfassend durchgeführt werden kann). Das Ergebnis in diesem Fall ist aber erst einmal ernüchternd:

Das "Sisi-Syndrom" scheint eine deutsche Eigenheit zu sein.

Denn die Ergebnisse erbrachten keine wissenschaftlich fundierten Einträge - weltweit.

Ganz anders sah es auf den Seiten der so genannten "Gesundheits-Anbieter" aus, wie sie auch im Internet inzwischen zu Dutzenden gefunden werden können. Ähnliches galt für die Hinweise aus bundesdeutschen Tageszeitungen, Zeitschriften, Fernseh-Sendungen, ja sogar aus Arztromanen u. a. Dort wurde oft übereinstimmend berichtet, das Sisi-Syndrom sei eine besondere Form der Depression, bei der

- die Betroffenen über vermehrte Aktivität versuchten
- ihre depressiven Gefühle zu verbergen und
- bei dem ein bestimmtes Antidepressivum als Mittel der (ersten) Wahl anzusehen sei, um den Patienten zu helfen.

Zwei Internetseiten zitierten auch Fachleute aus wissenschaftlichen Pressekonferenzen bzw. Seminar-Referaten, wobei auch repräsentative Studien angeführt wurden. In diesen klagten fast ein Drittel aller depressiv Erkrankten über ein dem "Sisi-Syndrom" ähnliches Beschwerdebild. Und man sprach sogar von einer Zahl, nämlich drei Millionen Betroffenen. Und dass eben ein bestimmtes Arzneimittel hier am hilfreichsten sei.

Später erschien auch ein Taschenbuch zu diesem Thema, in dem sehr ausführlich über Einzelheiten des Krankheitsbildes, über biologische und psychologische Hintergründe und die heutigen therapeutischen Möglichkeiten berichtet wurde. Danach folgten auch manche medizinische Fachzeitschriften mit konkreten Behandlungsempfehlungen und pharmakologischen Erklärungsmustern. Kurz: Das "Sisi-Syndrom" schien als besondere Ausprägungsform der Depression erkannt, definiert, akzeptiert und therapeutisch gut behandelbar zu sein.

Das Beschwerdebild des "Sisi-Syndroms"

Um was handelt es sich nun konkret? Einzelheiten siehe die nachfolgende Tabelle:

Das Beschwerdebild des "Sisi-Syndroms"

- Klinische Merkmale: innere Unruhe, Rastlosigkeit, Sprunghaftigkeit, keine Freude, kein echtes Interesse, Sorgen um das Gewicht bzw. Essen, deshalb häufige Diäten, Abhängigkeit des Selbstwertgefühls vom Gewicht, Selbstschädigungs-Neigung.

- Erscheinungsbild: selbstbewusstes und attraktives Auftreten, gepflegtes Äußeres, lebensbejahend und leistungsorientiert, "sich-nicht-gehen-lassen", kein offenes jammeriges Klagen, keine Nervosität.

- Lebensführung: übermäßige sportliche Aktivität, ausgeprägtes Gesundheitsbewusstsein, auch gesteigerte berufliche oder kulturelle Aktivitäten, strikte Ernährungs-Regeln, Arztkontakt wegen körperlicher Beschwerden (nicht wegen seelischer!), normale bis überdurchschnittliche Intelligenz.

Modifiziert nach Wittchen u. Mitarb., Voll, GlaxoSmithKline u. a.

Das, was am meisten auffiel, war eine besonders sprunghafte Aktivität bei jedoch selbstbewusstem Auftreten und ohne offenes Klagen über irgendwelche gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Und eine durchaus gesundheitsbewusste, mit allerdings überzogener sportlicher Aktivität verbundene Lebensführung. In der Gruppe der betroffenen Frauen war auch ein vom Gewicht abhängiges Selbstwertgefühl bedeutsam, was aber nur in seltenen Fällen in eine fachärztliche Behandlung führte.

Was außerdem auffiel waren Alter und Geschlecht, nämlich vor allem junge und weibliche Patienten vom "Sisi-Typus". Und einige relativ uncharakteristische Merkmale, so das Fehlen offen geäußerter Niedergeschlagenheit oder Depressivität, ferner innere Unruhe und Rastlosigkeit, vermehrte Aktivität bis zu übermäßigen sportlichen Ambitionen, ausgeprägte Sorgen um Gewicht, Aussehen und Erscheinungsbild und eine erhöhte Selbstwertabhängigkeit von äußeren Ereignissen bzw. Einflussfaktoren.

Was die Kritiker bemängeln

Nun ist es eine alte Erkenntnis, dass sich auch in der Psychiatrie (wie nebenbei in den organischen Medizin-Fächern auch) immer wieder Schwerpunkte herausbilden, zeit- oder gesellschafts-abhängig bzw. wie auch immer, bei denen dieses oder jenes Symptom plötzlich in den Vordergrund gerät, ja sogar angeblich "neue" Krankheiten auftreten bzw. längst vergessene plötzlich erneut auffallen oder gar zu dominieren scheinen. Das kennt man in der Psychiatrie beispielsweise beim heute so aktuellen Burnout-Syndrom, das früher unter anderen Begriffen durchaus gängig war (z. B. Neurasthenie, Erschöpfungsdepression, Helfer-Syndrom u. a.). Und dass im Rahmen eines allseits anerkannten Krankheitsbildes bestimmte einzelne Symptome plötzlich hervorstechen ist ebenfalls alltägliche Erkenntnis (z. B. bei der Depression neuerdings vermehrt überfallartige Panik-Attacken, die entweder im Vorfeld oder zusammen mit der Depression belasten, wobei vor einigen Jahrzehnten das Panik-Syndrom noch nicht einmal in den psychiatrischen Lehrbüchern zu finden war).

Was sehen also die Kritiker des "Sisi-Syndroms" als so bedenklich an?

Zum einen sind es methodische Schwächen, die in der Tat die "Konstruktion" dieses "neuen" Krankheitsbildes als wissenschaftlich nicht fundiert erscheinen lassen. Einzelheiten dazu würden in diesem Rahmen zu weit gehen, sind aber in der Tat ernst zu nehmen. Das allerdings ist ein häufiges Diskussions-Thema unter Forschern und noch kein Anlass, ein offensichtlich zunehmendes reales Leiden in Frage zu stellen.

Was bemängeln die Kritiker konkret? Ihre wichtigste Erkenntnis: Die erhobenen "Sisi-Merkmale" sind nicht spezifisch für eine Depression. Und das wird dann auch detailliert belegt.

Daran ändert natürlich auch nichts, dass sich die Medien (aber offenbar nicht die Mehrzahl der Wissenschaftler) auf dieses "depressions-nahe Sisi-Syndrom" gestürzt haben und vielleicht auch so mancher Arzt plötzlich vermehrt solche Patienten in seiner Klientel zu erkennen glaubte.

Was aber hat die unglückliche Kaiserin Elisabeth nun wirklich gehabt? Schwermütige Anwandlungen waren sicher vorhanden, vielleicht sogar eine genetische (erbliche) Schiene, wie der Freitod ihres Sohnes nahe legen könnte. Die angeführten Wissenschaftler verharren nun nicht einfach in einer strikten Ablehnung des "Sisi-Syndroms", sondern bemühen sich diagnostisch um eine neue Sichtweise dieses Leidens, das ja in der Tat nicht selten vorkommt. Um was könnte es sich also handeln?

Ist das Sisi-Syndrom eine Ess-Störung?

Wenn auch die meisten Beschwerden und seelischen, körperlichen und psychosozialen Folgen der Kaiserin Elisabeth gar nicht so selten bei einer Depression zu finden sind, so rechtfertigen sie doch - alleine für sich genommen - noch keine Depressions-Diagnose. Dafür häufen sie sich bei einem anderen Krankheitsbild, das vor allem junge Frauen nachhaltig zu schädigen vermag, und zwar immer öfter und immer folgenreicher, nämlich Ess-Störungen.

Und so stellt man neuerdings eine krankheitsbedingte Verwandtschaft des "Sisi-Syndroms" zu den Ess-Störungen zur Diskussion, vor allem was die übermäßige Aktivität und Sorge um das Gewicht sowie die Abhängigkeit des Selbstwertgefühls von Gewicht und Figur anbelangen. Auffällig auch die fehlenden Klagen in dieser Richtung und dafür eine fast gnadenlose Art der Gewichts-Selbstregulation. Nachfolgend deshalb eine etwas ausführlichere Darstellung der Ess-Störungen und hier insbesondere der Anorexia nervosa.

Anorexia nervosa - eine kurz gefasste Übersicht

Die Ess-Störungen sind keine neue Krankheit, obgleich sie in den letzten Jahrzehnten deutlich, in einigen Nationen, vor allem in der westlichen Welt bedrohlich zugenommen haben, besonders beim weiblichen Geschlecht.

Man unterscheidet die

- Anorexia nervosa, bei der sich die Betroffenen beharrlich weigern, ein Minimum des normalen (!) Körpergewichts zu halten und die

- Bulimia nervosa, die durch wiederholte "Fressanfälle" gekennzeichnet ist, begleitet von unangemessenen Maßnahmen zur Gewichtssteuerung wie das selbst-induzierte Erbrechen, der Missbrauch von Abführmitteln, überzogenes Fasten oder exzessive körperliche Betätigung.

Kennzeichnendes Merkmal für beide Formen ist eine gestörte Selbst-Wahrnehmung, was die eigene Figur im allgemeinen und das Gewicht im speziellen anbelangt.

Nachfolgend eine Kurzfassung der Anorexia nervosa nach dem Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen - DSM-IV-TR der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung (APA):

Der Begriff der Anorexie ist zwar in aller Munde, aber - wie so oft - gar nicht zutreffend. Denn Anorexie (auch Asitie genannt) heißt so viel wie Verlust des Nahrungstriebes, allgemeinverständlich Appetitlosigkeit und hat mit einer Magersucht erst einmal gar nichts zu tun. Denn Appetitlosigkeit kann auch durch zahlreiche körperliche Erkrankungen und sogar Behandlungsmaßnahmen ausgelöst werden. Im vorliegenden Falle ist es noch insofern irreführend, weil gerade die Anorexia = Appetitlosigkeit bei den Ess-Störungen besonders selten auftritt. Gleichwohl ist man bei diesem Begriff geblieben, er hat sich etabliert und erfüllt inzwischen auch seine Aufgabe.

Definition: Hauptmerkmale der Anorexia nervosa sind also die Weigerung, ein Minimum des normalen Körpergewichts zu halten, große Angst vor Gewichtszunahme und eine erhebliche Störung in der Wahrnehmung der eigenen Figur und besonders des Körperumfanges (zusätzliche Symptome sind beispielsweise auch die Amenorrhoe, also das Ausbleiben der Monatsblutung).

Gewichts-Kriterium: Was unter einem normalen Körpergewicht zu verstehen ist, das regeln bestimmte medizinische Richtlinien, die dann auch das Untergewicht definieren. "Normal" heißt, dass das Körpergewicht nicht weniger als 85 % jenes Gewichts betragen darf, das als normal für dieses Alter und diese Größe angesehen wird (dafür gibt es dann entsprechende Tabellen wie beispielsweise der Body-Mass-Index - BMI u. a.).

Da es sich hier aber auch um individuelle Grenzwerte handeln kann, insbesondere was Körperbau und Gewichtsentwicklung anbelangt, pflegt man in der Regel erst dann aufmerksam zu werden, wenn der Betreffende deutlich untergewichtig wird.

Wie äußert sich nun eine Ess-Störung vom Typ der Anorexia nervosa?

Gewöhnlich wird der Gewichtsverlust durch eine Einschränkung der Gesamtnahrungsaufnahme erreicht. Zuerst schließen die Patienten (die aber noch gar nicht als solche erkannt worden sind, geschweige denn sich selber als krank begreifen würden) jene Nahrungsmittel aus ihrem Ernährungsplan aus, die sie als hochkalorisch betrachten (was nicht immer stimmt). Nach und nach mündet dieses Verhalten in eine Diät, meist sehr starre und damit noch riskantere, als es ohnehin einige Diäten vorhalten. Schließlich beschränken sich viele auf einige wenige Nahrungsmittel ihrer (kalorien-reduzierten) Wahl.

Weitere Methoden zur Gewichtsreduktion sind selbst-induziertes Erbrechen (zuerst etwas mühsam mit dem Finger im Hals, später fast "automatisch") sowie der Missbrauch von Abführmitteln und Diuretika (harntreibende Medikamente). Außerdem eine gesteigerte oder schließlich übermäßige körperliche Aktivität (Fachbegriff: Purging-Verhalten, wie es bei der anderen Ess-Störung, der Bulimia nervosa zur Regel wird).

Grundelement dieser krankhaften Entwicklung ist eine große und oft noch ständig wachsende Furcht vor einer Gewichtszunahme oder gar vor dem "Dickwerden". Das ist zwar nichts Ungewöhnliches, in diesem Falle aber doch. Denn wer dicker zu werden droht und etwas dagegen tut (z. B. körperliche Aktität), wird auch mit Freude und Genugtuung feststellen, dass sich dieser unerwünschte Trend verlangsamt und schließlich wieder zur Normalität zurückführt. Dann lässt auch die begründete Angst nach.

Anders bei der Anorexia nervosa. Die Furcht vor dem Dickwerden wird nämlich bei diesen Patienten durch den Gewichtsverlust nicht gemindert, im Gegenteil: Es wächst sogar die Besorgnis über eine "bedrohliche" Gewichtszunahme, und das häufig trotz stetigen Gewichtsverlustes. Das ist eines der kennzeichnenden Merkmale: Die Betroffenen werden immer magerer, fürchten aber paradoxerweise immer ausgeprägter ein auffälliges Dickwerden. Woher kommt dies?

Bei Patienten mit Ess-Störungen ist das Erleben und vor allem die Bedeutung des Körpergewichts und damit der Gesamt-Figur gestört. Manche fühlen sich insgesamt als übergewichtig (und dadurch abstoßend, hässlich, nicht liebenswert). Andere erkennen wenigstens an, dass sie "stellenweise" zu dünn sind, bleiben aber trotzdem besorgt wegen gewisser Körperpartien, die sie dann isoliert als "zu dick" bezeichnen bzw. sogar so sehen. Beispiele: Hüften, Gesäß, Bauch.

Dadurch entwickeln nicht wenige ein geradezu nervöses Spektrum von Verhaltensweisen, um ihre Figur oder ihr Körpergewicht permanent und vor allem subjektiv einzuschätzen: ständiges Wiegen, zwanghaftes Abmessen bestimmter Körperpartien, dauernde Benutzung eines Spiegels, um als vermeintlich dick wahrgenommene Körperteile zu prüfen u. a.

Kurz: Das Selbstwertgefühl von Menschen mit Anorexia nervosa ist in hohem Maße abhängig von ihrer Figur und ihrem Körpergewicht. Ein vermeintliches Ansteigen bringt sie in Panik. Ein gleichbleibendes normales Gewicht beruhigt sie nicht. Ein Gewichtsverlust hingegen wird als beeindruckende Leistung und Zeichen außergewöhnlicher Selbstdisziplin gewertet (während eine scheinbare Gewichtszunahme als inakzeptables Versagen der Selbstkontrolle gefürchtet wird).

Außerdem verleugnen die Betroffenen das, was jeden Menschen mit unfreiwilliger Gewichtsabnahme mit Sorge erfüllt: die medizinischen Konsequenzen ihres mangelernährten Zustands (siehe später). Anorexie-Patienten irritiert derlei nicht - nicht einmal angesichts drohender Gesundheits-Gefährdung.

Deshalb ist es in der Regel auch unergiebig, die Patienten selber über ihren Zustand berichten zu lassen, vor allem was Nahrungsmittel-Auswahl und besorgnis-erregende Vorzeichen einer durch Fehlernährung ausgelösten Erkrankung anbelangt. Man muss ihre Angehörigen befragen, Anorexie-Patienten selber sind keine verlässlichen Berichterstatter.

Welche Störungen können mit einer Anorexia nervosa zusammenfallen?

Schwierig kann die Frage werden, was ist Folge (direkt oder indirekt) bzw. welche sonstigen Störungen können mit einer Magersucht zusammenfallen und damit ggf. verwechselt werden? Das bedarf der sorgfältigen Abklärung durch den jeweiligen Facharzt (Psychiater, Neurologe, Internist, Gynäkologe, Orthopäde u. a.). Nachfolgend eine kurz gefasste Übersicht:

  • Am meisten Probleme bereiten seelische und psychosoziale Störungen. So entwickeln spätestens bei ausgeprägtem Untergewicht viele Betroffene mit Anorexia nervosa depressive Krankheitszeichen: niedergeschlagen, resigniert, freudlos, aber auch reizbar, aggressiv, schlaflos, ohne sexuelles Interesse, dazu von Rückzugsneigung und Isolationsgefahr bedroht. Dies kann soweit gehen, dass das Beschwerdebild dem einer ausgeprägten Depression ähnelt, so wie man früher die endogene Depression definierte (also eine von "innen", d. h. biologisch geprägte Schwermut, die heute in der englischsprachigen Fachwelt als Major Depression bezeichnet wird).

Unter diesen Umständen kann es sich tatsächlich einmal um eine Verwechslung handeln zwischen Depression und Ess-Störung, besonders in bestimmten Phasen beider Leiden, wo sich die Symptome noch am ehesten annähern, ohne dass weitere Charakteristika schließlich die zutreffende Diagnose ermöglichen.

Gelegentlich finden sich auch Hinweise auf ein ungewöhnliches "Zwangsverhalten", was sich sowohl auf die Nahrung als auch auf nicht-nahrungs-bezogene Aspekte beziehen kann. Bei den Magersucht-Patienten konzentrieren sich die Zwangsgedanken allerdings in der Regel auf ihr Nahrungs-Verhalten bzw. bestimmte Nahrungsmittel. Einige sammeln sogar Rezepte oder horten Nahrungsmittel.

Wenn sich also das Zwangsverhalten besonders auf die spezielle Ernährung beschränkt, dann ist es im Rahmen der Anorexia nervosa zu sehen. Wenn es auch weitere Zwänge einschließt, dann handelt es sich möglicherweise um eine so genannte Co-Morbidität, d. h. dann sind zwei Krankheiten auf einmal zu ertragen (Anorexie und Zwangsstörung).

Weitere Merkmale, die bisweilen mit einer Anorexia nervosa einhergehen können, sind bestimmte Vorbehalte, warum nicht in der Öffentlichkeit gegessen werden kann (die Gründe kann man sich denken - s. o.), ferner Gefühle der Ineffektivität ("ich bin nichts, ich kann nichts, man mag mich nicht", so wie es auch Depressive in ihrem schwermütigen Tief quält), schließlich das starke Bedürfnis die eigene Umwelt zu kontrollieren (denn dadurch lassen sich die auffälligen Nahrungs-Verhaltensweisen am besten durchziehen), unterstützt von einem immer rigider (starrer) werdenden Denken, das auch einmal in einen unnötigen Perfektionismus münden kann. Und schließlich ein Rückgang der sozialen Aktivitäten und Initiativen, wie es in der Fachsprache heißt, oder allgemein verständlich: immer weniger Kontakt zu Familie, Nachbarn, Freunden, Kollegen u. a., bis hin zur zwischenmenschlichen Isolation.

Nicht wenige Anorexie-Betroffene sind aber schon vor ihrer Ess-Störung durch bestimmte Persönlichkeitszüge aufgefallen. Einzelheiten siehe das entsprechende Kapitel über Persönlichkeitsstörungen. Hier gilt es vor allem die so genannte Borderline-Persönlichkeitsstörung zu studieren.

Auch besteht mitunter eine Neigung zu Alkohol- und Rauschdrogen-Missbrauch, insbesondere bei jenen Patienten, die noch Laxanzien (Abführmittel) und Diuretika (harntreibende Substanzen) missbrauchen (was speziell die Ess-Störung Bulimia nervosa betrifft - siehe diese).

Zuletzt fallen nicht wenige dieser Patienten schon vor ihrer Ess-Störung (und später noch viel mehr) durch eine ausgeprägte Gemüts-Labilität (Fachbegriff: Affektlabilität) auf, die sich in Krisenzeiten zu "dunklen Gedanken" oder gar Suizidversuchen verdichten können.

  • Was die körperlichen Beschwerden anbelangt, die im Rahmen eines solchen Nahrungsmittel-Fehlverhaltens zu ertragen sind (bzw. dadurch verstärkt werden), so handelt es sich hier vor allem um eine Amenorrhoe (also ein Ausbleiben der Monatsblutung) sowie um Verstopfung, Bauchschmerzen, Kälte-Unverträglichkeit u. a. Und im so genannten Antriebsverhalten um zwei gegensätzliche Pole, nämlich entweder Lethargie (Teilnahmslosigkeit, Trägheit) oder eine oftmals überschießend freigesetzte Energie, die je nach Möglichkeit oder Neigung auch einmal sportlich abgeführt werden kann oder muss. Manchmal wechseln sich die beiden Extrem-Zustände auch ab: einmal müde, matt und apathisch, dann wieder aktiv, dynamisch bis überdreht oder gar hektisch.

Der Endzustand einer solchermaßen extrem durchgezogenen Magersucht ist schließlich die Auszehrung, also ein regelrechter körperlicher Verfall. Aber auch Blutdruckabfall, zu geringe Körpertemperatur, Hauttrockenheit, ja sogar eine feine, flaumige Körperbehaarung am Rumpf (so genannte Lanugo) fallen dem aufmerksamen Laien und natürlich dem Arzt sehr rasch auf. Viele Anorexie-Patienten leiden auch unter einer zu langsamen Herzschlagfolge, einige entwickeln periphere Ödeme (also Flüssigkeitseinlagerungen in den Geweben, vor allem in Händen und Füßen), mitunter sogar kleine Hautblutungen (Petechien), gewöhnlich an Armen und Beinen. Andere weisen eine unnatürliche gelbliche Hautverfärbung auf oder verändern ihre Gesichtskonturen, weil die Speicheldrüsen am Kieferwinkel (Ohrspeicheldrüsen) plötzlich größer werden. Bei jenen Personen, die ihr Erbrechen selber einleiten, kann es auch zu Beeinträchtigungen des Zahnschmelzes kommen. Einige weisen sogar Narben oder Schwielen auf dem Handrücken auf, hervorgerufen durch Kontakt mit den Zähnen, wenn sie mit Fingern oder gar der ganzen Hand das Erbrechen auslösen.

Wenn es schließlich zu ernsten medizinischen Folge-Krankheiten kommt, dann drohen vor allem (Fachbegriffe, Einzelheiten siehe Fachliteratur) eine normochrome, normozytische Anämie, eine verschlechterte Nierenfunktion (verbunden mit chronischer Dehydrierung und Hyperkaliämie), kardiovaskuläre Störungen (extreme Hypotonie, Arrhythmien), Osteoporose (in Folge geringer Calciumeinnahme und -resorption) sowie reduzierte Östrogen- und erhöhte Cortisol-Ausschüttungen.

Wen trifft die Anorexia nervosa?

Die Anorexia nervosa scheint am häufigsten in industrialisierten Gesellschaften vorzukommen, in denen es einen Überfluss an Nahrung gibt und letztlich niemand hungern muss. Am häufigsten scheint sie bisher in den USA, in Kanada, Europa, Australien, Japan, Neuseeland und sogar Südafrika aufzutreten. Möglicherweise gibt es aber in vielen anderen Nationen nur nicht so exakte Untersuchungs-Ergebnisse, obgleich das Leiden dort ebenfalls vorkommt bzw. vielleicht sogar im Ansteigen begriffen ist.

Wichtig sind vor allem die psychosozialen bzw. gesellschaftlichen Aspekte des jeweiligen kulturellen Bereiches, wobei es letztlich immer wieder auf einen Aspekt hinauszukommen scheint, nämlich: Attraktivität durch Schlankheit.

- Geschlecht: Mehr als 80 % der Fälle betreffen (junge) Frauen. Männer sind aber von diesem Leiden nicht ausgeschlossen.

- Die Häufigkeit (Fachbegriff: Lebenszeitprävalenz) für Anorexia liegt für Frauen bei etwa 0,5 %. Die Dunkelziffer dürfte aber groß sein und der Prozentsatz sich vor allem dann erhöhen, wenn es sich um "Grenz-Fälle" handelt, die man (noch) nicht der eigentlichen Anorexia nervosa zurechnen kann. Insgesamt aber hat die Zahl in den letzten Jahrzehnten deutlich zugenommen - offenbar weltweit.

- Der Beginn liegt üblicherweise in der mittleren bis späteren Adoleszenz (also zwischen 14 und 18 Jahren, Durchschnittsalter bei 17), selten vor der Pubertät. Dort, wo die Anorexia nervosa später ausgebrochen sein soll, scheinen bei genauer Untersuchung schon früh gewisse seelische Störungen aufgetreten zu sein, die nur nicht zur Sprache kamen oder einfach (bewusst oder unbewusst) übersehen wurden. Auf jeden Fall ist der erstmalige Ausbruch jenseits des 40. Lebensjahres überaus selten (und muss dann auf andere, vor allem organische Ursachen einer krankhaften Magersucht-Entwicklung hin sorgfältig untersucht werden).

- Oft ist der Beginn der Krankheit mit einem belastenden Lebensereignis verbunden.

- Die seelischen, psychosozialen und körperlichen Folgen und damit der Verlauf des Leidens können sehr unterschiedlich ausfallen: Einige Betroffene genesen völlig nach einer einzigen Anorexie-Episode, andere zeigen ein so genanntes fluktuierendes Muster (Auf und Ab) von Gewichtszunahme und Rückfall. Wieder andere erleben einen sich chronisch verschlechternden Gesundheitszustand über Jahre und Jahrzehnte hinweg.

Insbesondere während der ersten fünf Jahre kann das Beschwerdebild von einem Ess-Störungs-Typ zum anderen wechseln, also beispielsweise von der reinen Anorexia nervosa zur Bulimia nervosa, bisweilen auch umgekehrt.

- Eine erbliche Belastung ist nicht auszuschließen. Für biologische Verwandte ersten Grades besteht sogar ein erhöhtes Risiko an Anorexia nervosa zu erkranken. Ähnliches gilt für affektive Störungen, also vor allem Depressionen. Auch die Zwillings-Forschung spricht eine deutliche Sprache.

- Ess-Störungen können ein lebensgefährliches Leiden werden. Wenn die seelischen und vor allem organischen Folgen schließlich bedrohlich werden, ist ein Klinikaufenthalt nicht mehr zu umgehen. Das sollte man ernst nehmen. Denn allein die Universitätskliniken mit ihrer statistischen Dokumentation sprechen bei der Anorexia nervosa von einer Langzeitmortalität (tödliches Ende aufgrund dieser Erkrankung) von etwa 10 %. Die häufigste Todesursache ist - man sollte es nicht für möglich halten - Verhungern. Danach folgen Selbsttötung und schließlich organische Folgen, insbesondere ein Ungleichgewicht in bestimmten Stoffwechsel-Bereichen des Organismus (z. B. Elektrolyte).

Mit was kann eine Anorexia nervosa verwechselt werden?

Es wurde schon mehrfach darauf hingewiesen, dass es auch andere Ursachen eines bedrohlichen Gewichtsverlustes mit entsprechenden seelischen, psychosozialen und körperlichen Störungen gibt. Und dass man vor allem bei einer erstmaligen Erkrankung jenseits des 40. Lebensjahres in diesem Bereich sehr sorgfältig nachforschen muss. Das betrifft beispielsweise organische Krankheitsfaktoren wie gastro-intestinale (Magen-Darm-)Erkrankungen, Hirntumoren, verborgene Krebs-Fälle in anderen Organen, das erworbene Immun-Abwehrschwäche-Syndrom (AIDS) u. a., die alle mit erheblichem Gewichtsverlust verbunden sind.

Doch es gibt einen großen Unterschied. So gut wie alle Patienten mit diesen organischen Ursachen haben zumeist kein gestörtes Körperbild und wünschen sich auch keinen weiteren Gewichtsverlust. Im Gegenteil: Sie sind sich der (Lebens-)Bedrohung durchaus bewusst bzw. können bei entsprechender Aufklärung alle Therapie-Empfehlungen akzeptieren und sich konsequent danach richten.

Was die seelischen Ursachen anbelangt, so muss man vor allem auf eine Depression achten, bei der es ja ebenfalls zu Appetitlosigkeit und Gewichtsverlust kommen kann. Doch auch hier streben die meisten Schwermütigen weder einen übermäßigen Gewichtsverlust an (obwohl dieser noch am ehesten toleriert wird, nähert man sich doch erst einmal seinem "Idealgewicht", "aber dann ist Schluss"). Vor allem haben sie keine so exzessive Furcht vor einer Gewichtszunahme (s. o.).

Bei der schizophrenen Psychose kann ein bizarres Essverhalten irritieren und gelegentlich auch einmal ein erheblicher Gewichtsverlust auffallen, doch auch hier zeigen die Betroffenen selten Angst vor einer Gewichtszunahme. Und wenn sie sich vor so mancher körperlichen Störung fürchten mögen, dann aber nicht so einseitig auf Figur und Gewicht ausgerichtet wie bei der Anorexia nervosa.

Einige kennzeichnende Merkmale sind allerdings auch bei anderen seelischen Störungen zu finden, auch wenn sie der Allgemeinheit weniger bekannt sein dürften, obgleich sie gar nicht so selten vorkommen. Dazu gehört die Soziale Phobie, also die Angst vor den anderen schlechthin mit Rückzug und Isolationsneigung, dazu gehören die erwähnten Zwangsstörungen und schließlich die körperdysmorphen Störungen (so genanntes Entstellungs-Syndrom, also die unbegründete Angst vor körperlicher Deformierung). Wo liegen die Berührungspunkte?

Patienten mit einer Anorexia nervosa können sich wie bei der sozialen Phobie gedemütigt fühlen oder verlegen sein, wenn sie beim Essen in der Öffentlichkeit gesehen werden. Oder wie bei der Zwangsstörung können sie unter nahrungsbezogenen Zwangshandlungen und Zwangsgedanken leiden (s. o.). Und bei der körperdysmorphen Störung können ihre Gedanken ständig um einen theoretischen Mangel an ihrer körperlichen Erscheinung kreisen.

Ob nun das eine zum anderen passt oder ob in diesem oder jenen Fall beide Krankheiten gleichwertig auftreten (die erwähnte Co-Morbidität), muss der Facharzt entscheiden. Danach richtet sich dann auch die Therapie.

Und bei der Bulimia nervosa sind - wie eingangs erwähnt - die Unterschiede noch deutlicher, nämlich wiederholte Episoden von "Fressanfällen", gefolgt von selbstinduziertem Erbrechen, um die drohende Gewichtszunahme wieder rückgängig zu machen.

Schlussfolgerung: Ist das "Sisi-Syndrom" also eine Ess-Störung?

Wer diese Ausführungen bis hierher durchgehalten hat und dann noch einmal die Biographie der Kaiserin Elisabeth durchgeht, wird also so manche Parallele zu einer Ess-Störung finden. Demnach - so die Kritiker - wären die beschriebenen Merkmale des "Sisi-Syndroms" (übermäßige Aktivität, Sorge um das Gewicht und Abhängigkeit des Selbstwertgefühles davon, attraktives und selbstbewusstes Äußeres, fehlende Klagen u. a.) kein Beweis für eine eigenständige Depressions-Form, sondern eher im Zusammenhang mit einer Ess-Störung zu sehen. Oder kurz: Kaiserin Elisabeth also Anorexia nervosa-Patientin.

Ob dies von allen Experten so gesehen wird, bleibt dahin gestellt. Von einem aber muss man sich aber wohl verabschieden: Das "Sisi-Syndrom" in der deutschen (nicht-fachlichen) Literatur ist offensichtlich keine neue Depressionsform.

Möglicherweise aber hatte diese psychiatrische Mode-Strömung mit ökonomischem Hintergrund doch noch ihr Gutes, nämlich einen vermehrten Interesse-Schub für die Ess-Störung vom Typ der Anorexia nervosa. Ein durchaus quälendes und folgenschweres Leidensbild, vorgelebt von einer Prominenten, durchlitten von vielen LeidensgenossInnen bis heute, vor allem aber lange Zeit nicht erkannt und vor allem anerkannt, was Krankheitswertigkeit, Diagnose und notwendige Therapie anbelangt.

Denn ohne gezielte Behandlung droht für die meisten Betroffenen ein ähnliches Schicksal wie für Kaiserin Elisabeth: seelisch, körperlich, zwischenmenschlich. Das muss nicht sein, insbesondere mit den heutigen psychotherapeutischen Möglichkeiten.

So gesehen hat der "wissenschaftliche Irrtum" eines "Sisi-Syndroms" vielleicht doch noch einen nützlichen Effekt.

Literatur

Grundlage vorliegender Ausführungen ist der Fachartikel

M. Burgmer, B. Driesch, G. Heuft: Das "Sisi-Syndrom" - eine neue Depression? Nervenarzt 5 (2003) 440 (dort auch weiterführende Literatur)

Weitere Informationen

APA: Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen - Textrevision - DSM-IV-TR. Hogrefe-Verlag für Psychologie, Göttingen-Bern-Toronto-Seattle 2003 (Grundlage der Anorexie-Hinweise)

Corti, E. C.: Elisabeth: Eine seltsame Frau. Styria-Verlag, Graz-Wien-Köln 1998

Faust, V.: Depressionsfibel. Gustav-Fischer, Stuttgart-New York 1997

Faust, V.: Depressionen. Hippokrates-Verlag, Stuttgart 1988

Faust, V.: Schwermut. Hirzel-Verlag, Stuttgart-Leipzig 1999

Faust, V., G. Hole, M. Wolfersdorf: Depressionen. In: V. Faust (Hrsg.): Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Klinik, Praxis und Beratung. Gustav-Fischer-Verlag, Stuttgart-Jena-New York 1996

Hamann, B.: Elisabeth. Kaiserin wider Willen. Amalthea-Verlag, Wien-München 1997

Hamann, B., E. Hassmann: Elisabeth - Stationen ihres Lebens. Brandstätter- Verlag, Wien-München 1998

Praschl-Bichler, G.: Kaiserin Elisabeth: Mythos und Wahrheit. Ueberreuter-Verlag, Wien-1996

Schad, M.: Elisabeth von Österreich. Deutscher Taschenbuchverlag, München 1998

Voll, B.: Das Sisi-Syndrom. Knaur-Verlag, München 1998 (dort auch weiterführende Literatur zu Kaiserin Elisabeth von Österreich)

Wittchen, H. u. Mitarb.: Depressionen in der Allgemeinpraxis. Die bundesweite Depressionsstudie. Schattauer-Verlag, Stuttgart 2000

Wittchen, H. u. Mitarb.: Warum werden Depressionen häufig nicht erkannt und selten behandelt? Patientenverhalten und Erklärungswert von "Sisi-Merkmalen". Nervenheilkunde 18 (1999) 210

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