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BERUHIGUNGSMITTEL (TRANQUILIZER)

Keine Behandlungsform hat die psychiatrische Therapie einerseits so revolutioniert, andererseits soviele kontroverse Diskussionen ausgelöst wie die Psychopharmaka. Nachfolgend deshalb einige größere Beiträge zu diesem Thema, im Vorliegenden über Beruhigungsmittel oder Tranquilizer vom Typ der Benzodiazepine.

Zuvor jedoch einige Hinweise über Psychopharmaka generell:

PSYCHOPHARMAKA

Psychopharmaka sind Arzneimittel mit psychotroper Wirkung, d.h. sie beeinflussen das Zentrale Nervensystem und damit Seelenleben, oder kurz: sie verändern Erleben und Verhalten.

Psychopharmaka können nach verschiedenen Aspekten eingeteilt werden; am geläufigsten ist die Klassifikation nach klinischen Gesichtspunkten:

1. Neuroleptika (siehe das spezielle Kapitel) gegen psychotische Symptome (vor allem hochpotente Neuroleptika) und eine Reihe weiterer Krankheitszeichen (vor allem nieder- und mittelpotente Neuroleptika).

2. Antidepressiva (siehe das spezielle Kapitel) gegen Depressionen, Angststörungen u.a.

3. Tranquilizer (siehe das vorliegende Kapitel) gegen eine Vielzahl von Symptomen und Krankheitsbildern (s. später).

4. Psychostimulantien (siehe das spezielle Kapitel) mit nur noch wenigen Heilanzeigen (z.B. hyperkinetisches Syndrom und Narkolepsie).

Daneben gibt es noch die Sondergruppe der sog. Phasenprophylaktika (Lithiumsalze, Carbamazepin, Valproinsäure, s. das spezielle Kapitel), die ebenfalls auf das Erleben und Verhalten einwirken, üblicherweise aber nicht zu den Psychopharmaka im engeren Sinne gezählt werden.

Außerdem die Schlafmittel (Hypnotika), Schmerzmittel (Analgetika), Betäubungsmittel (Narkotika), Antiepileptika sowie Substanzen ohne anerkannten therapeutischen Nutzen wie Genussmittel (Alkohol, Nikotin) und Rauschdrogen.

Schließlich entwickeln auch manche Medikamente eine Wirkung auf das zentrale Nervensystem, allerdings nur als Nebenwirkung: Antihistaminika, Muskelrelaxantien, bestimmte Hochdruckmittel, fiebersenkende und entzündungshemmende Arzneitmittel u.a.

ZUR GESCHICHTE DER BERUHIGUNGSMITTEL

Beruhigende Verfahren in jeglicher Form gibt es seit Menschengedenken: Das geht von lauwarmen Bädern über beruhigende, angstlösende oder schlaffördernde Pflanzenheilmittel bis zu psychotherapeutischen Maßnahmen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kamen die ersten chemischen Produkte auf den Markt, beginnend mit Opium, später Morphin, Haschisch, Hyoszin und schließlich Chloralhydrat, Äther, Paraldehyd, Sulfonal, Trional, Brom-Harnstoffabkömmlinge, Barbiturate usw.

Die Geschichte der modernen Psychopharmaka beginnt aber erst Mitte des 20. Jahrhunderts: Lithium (1949), das erste Neuroleptikum (1951), die ersten Antidepressiva (ab 1951) und das erste Beruhigungsmittel vom Typ der damals "modernen" Benzodiazepine.

Beruhigungsmittel sind nach wie vor die am häufigsten verlangten und verordneten Psychopharmaka. Das wird schon deshalb so bleiben, weil Überforderung, Anspannung, Stress, innere Unruhe, Nervosität und Angstzustände sowie Einschlafstörungen zu den häufigsten Befindensschwankungen und schließlich ernsteren seelischen Störungen gehören. Sie münden über die psychosozialen Folgen (Partnerschaft, Familie, Beruf) in einen Teufelskreis, der irgendwann einmal medikamentös unterbrochen werden soll, weil die nicht-medikamentösen Eigeninitiativen nicht ergriffen oder durchgehalten werden bzw. zu wünschen übrig lassen. Und weil natürlich ein Arzneimittel einen schnelleren und problemloseren Behandlungserfolg garantiert - scheinbar.

Früher nannte man die Beruhigungsmittel Sedativa (vom lat.: sedare = zum Sitzen, zur Ruhe bringen, beruhigen, dämpfen). Da benutzte man vor allem in "verdünnter" Form Substanzen, die auch als Schlafmittel verwendet werden konnten (z.B. Bromide/Bromureide, Barbiturate, Meprobamate usw.). Sie wurden in ihrer Zeit wichtige, ja unverzichtbare Medikamente, auch wenn man z.T. sehr unangenehme Nebenwirkungen und ein erhebliches Suchtrisiko hinnehmen musste.

Dann spielte einer der berühmten Zufälle in der pharmakologischen Forschung die entscheidende Rolle und leitete zu einer neuen Arzneimittel-Generation über, der man dann auch einen neuen Namen gab: Tranqulizer (vom lat.: tranquillus = ruhig).

Mitte der 50-er Jahre untersuchte man in Basel eine bisher wenig bearbeitete Substanzklasse, doch die meisten synthetisierten Verbindungen erwiesen sich als uninteressant. Das Forschungsprogramm wurde wieder eingestellt. Die daran beteiligten Wissenschaftler übernahmen neue Aufgaben und stießen bei ihren Aufräumarbeiten im Labor auf zwei übrig gebliebene Substanzen, die noch nicht geprüft worden waren. Man ließ sie noch routinemäßig und ohne große Erwartungen die pharmakologischen Untersuchungen durchlaufen - und das Chlordiazepoxid, der erste Tranquilizer vom Typ der Benzodiazepine war entdeckt.

Zwar gab es in der klinischen Prüfung erst einmal Schwierigkeiten, die nach heutigen Erkenntnissen zu erwarten waren (Koordinations- und Sprachstörungen), doch waren schon damals die Erfolge bei Angst- und Spannungszuständen erstaunlich. Deshalb begann der erste moderne Tranquilizer 1960 seinen weltweiten Siegeszug.

Ihm folgten viele chemische Modifikationen, teils als Beruhigungsmittel, teils als Schlafmittel. Die Benzodiazepine wurden die am meisten verordnete Stoffklasse aus dem Bereich der Psychopharmaka.

Nach und nach ergaben sich natürlich auch unerwünschte Begleiterscheinungen und nicht zuletzt eine Suchtproblematik, was den Experten schon ein Jahr nach Einführung klar geworden war, sich aber leider erst viel später mit der notwendigen Konsequenz herumsprach. Dies betrifft vor allem die sog. Niedrig-Dosis-Abhängig-keit, also eine gleichbleibende geringe Dosis ohne warnende Dosiserhöhung im Laufe der Zeit (s. später).

Nutzen und Gefahren

Trotzdem wurden sowohl in der öffentlichen Meinung als auch bei der Ärzteschaft die Tranquilizer und Schlafmittel vom Benzodiazepin-Typ lange Zeit besonders wohlwollend beurteilt. Soweit der Öffentlichkeit ein eigenes Urteil überhaupt möglich war, wurden die drei wichtigsten Psychopharmaka-Gruppen wie folgt klassifiziert:

- Neuroleptika waren und sind ungeliebte Medikamente (Einzelheiten s. das spezielle Kapitel),
- Antidepressiva nahm und nimmt man in seiner depressiven Not, wenn nichts anderes mehr hilft (s. das spezielle Kapitel),
- Tranquilizer erfreuten sich dagegen einer fast unkritischen Beliebtheit, was sie zu einem einzigartigen Welt-Erfolg machten.

Und so wurden Beruhigungs- und Schlafmittel vom Typ der Benzodiazepine lange Zeit häufiger, unkontrollierter und vor allem öfter zu hoch dosiert und insbesondere zu lange eingenommen, als in vielen Fällen zu verantworten war. Tranquilizer galten einfach als risikolose Arzneimittel, als "Glückspillen" ohne ernstere Gefahren. Das aber hat sich als folgenschwerer Irrtum herausgestellt.

Denn hier handelt es sich nicht um "harmlose Happy Pills, die ohnehin jeder einnimmt", sondern um hochwirksame Arzneimittel mit durchaus ernsten Konsequenzen bei vor allem zeitlich überzogenem Gebrauch.

Inzwischen zeichnet sich eine Kippreaktion in das andere Extrem ab: Jetzt werden die Tranquilizer gemieden, verteufelt und damit sogar jenen vorenthalten, denen sie gezielte Erleichterung ihres vielleicht sonst nicht ausreichend behandelbaren Beschwerdebildes bringen könnten. Auch dieser radikale Einstellungwandel ist falsch.

Auf jeden Fall sehen sich die Benzodiazepine seit ihrer Entwicklung vor mehr als vier Jahrzehnten ständig gegensätzlichen Meinungen ausgesetzt (über ihre Suchtgefahr und andere Nebenwirkungen wurde ja - wie bereits berichtet - schon relativ kurz nach Einführung diskutiert). Tatsächlich sind im Laufe der Jahrzehnte eine Reihe von ernstzunehmenden Nebenwirkungen bei unkontrollierter Einnahme registriert worden, die die heutige Diskussion rechtfertigen. Allerdings umfaßten diese Auseinandersetzungen nicht nur pharmakologische und klinische Aspekte (unkritische Rezeptierung, "Verordnungsautomatie", mangelhafte Kenntnisse über drohende Begleiterscheinungen u.a.), sondern auch psychosoziale und gesellschaftliche Aspekte und färbten z.T. sogar ideologisch ein. So entstand im Laufe der Zeit ein undurchschaubares Gemisch von Argumenten pro und contra, das nicht immer zum Vorteil der Patienten auszugehen pflegte.

Vielleicht wird sich eines Tages ein tragbarer Mittelweg in Richtung kritische, auf bestimmte Indikationsbereiche (Heilanzeigen) begrenzte und vor allem konsequent überwachte Verordnung einpendeln. Dazu bemüht man sich heute gezielt um alternative Möglichkeiten (nichtmedikamentöse Schlafhilfen, Pflanzenheilmittel, niederpotente Neuroleptika u. a.). Das schränkt die allzu großzügige oder gar routinemäßige Tranquilizer-Rezeptierung, nicht zuletzt auch die verhängnisvolle Wunschspirale und damit den Druck mancher Patienten auf ihren Arzt langsam ein - und entzieht diese Arzneimittel damit endlich stichhaltiger Kritik. Auf jeden Fall haben die vergangenen Jahrzehnte deutlich gemacht:

Tranquilizer und Schlafmittel vom Benzodiazepin-Typ sind für manche Heilanzeigen (s. später) unersetzlich, müssen aber endlich überlegter eingesetzt werden.

DEFINITION
Tranquilizer sind Psychopharmaka mit vor allem beruhigender, angstlösender und ggf. schlafanstoßender Wirkung. Im weiteren können sie auch zur Muskelentspannung, gegen (bestimmte) Krampfanfälle u.a. genutzt werden.

SYNONYME
Bedeutungsgleiche oder bedeutungsähnliche Begriffe sind Anxiolytika, Ataraktika. Tranquillantien, Psychosedativa, Sedativa, der englische Begriff minor tranquilizer u.a.

INDIKATIONEN (HEILANZEIGEN)

Tranquilizer vom Benzodiazepin-Typ können sich bei folgenden Beschwerdebildern als sinnvoll erweisen, sofern sie ärztlich überwacht und zeitlich begrenzt eingesetzt werden:

Angst- und Spannungszustände

Tranquilizer wirken beruhigend, entspannend und angstlösend. Deshalb können sie eine Vielzahl seelischer Störungen oder gar Krankheiten mildern helfen. Dazu gehören beispielsweise psychogene Reaktionen wie Konflikt- und Belastungsreaktionen oder neurotische Entwicklungen (z. B. Angststörungen u.a.). Einzelheiten siehe die entsprechenden Kapitel.

Befindlichkeitsstörungen

Tranquilizer werden aber auch gerne eingesetzt bei ursächlich unklaren, in der Praxis aber relativ häufigen Befindlichkeitsstörungen oder auch nur Befindensschwankun-gen wie Nervosität, Streßfolgen, innere Unruhe, Verspannung usw. Hier muß man ernsthaft darüber diskutieren, ob eine "rein chemische Dämpfung" bzw. "Abschottung" sinnvoll oder gar notwendig ist. Idealer wären nichtmedikamentöse Beruhigungsverfahren wie Autogenes Training, Yoga usw., die man aber in gesunden Tagen erlernt haben muß, will man sie in schwierigen Zeiten nutzen. Während einer solchen kritischen Phase ist es bekanntlich schwierig, oft sogar unmöglich, mit dem erhofften raschen Erfolg auch noch ein Entspannungsverfahren zu lernen. Dann drängt der Patient auf eine Soforthilfe, die zumeist "chemisch" auszufallen pflegt. Das wäre als kurzfristige Intervention in Krisensituationen auch gar nicht abzulehnen, wenn der Betreffende daraus lernen, die medikamentöse Erleichterung strikt begrenzen und sich anschließend um nichtmedikamentöse Entspannungshilfen bemühen würde.

Doch dazu kommt es nur selten. Und einige Patienten haben sich so an die chemische Erleichterung ("rosa Brille") gewöhnt, daß sie sich nicht mehr davon lösen wollen oder können. Nicht wenige von ihnen fordern dann mehr oder weniger energisch ein immer wieder neues Rezept und wundern sich schließlich, wenn sie von diesen Stoffen nicht mehr loskommen, d. h. abhängig (süchtig) geworden sind. Dann ist man mit entsprechenden Schuldzuweisungen gegenüber Arzt, pharmazeutischer Industrie, Apotheker usw. schnell bei der Hand.

Deshalb gilt es sich immer wieder die alte Erkenntnis in Erinnerung zu rufen - und vor allem die entsprechenden Konsequenzen daraus zu ziehen:

Eine medikamentöse Konfliktlösung ist durch Tranquilizer in der Regel nicht möglich. Zwar werden die anstehenden Probleme ggf. "entaktualisiert" und dadurch leichter bearbeitbar bzw. überstehbar. Doch dies setzt eine konsequente Eigenleistung voraus: Aussprache, Korrekturversuche (Partnerschaft, Beruf usw.), Entspannungsverfahren lernen, Genußgifte einschränken, regelmäßige körperliche Aktivität usw. Nur so läßt sich auf Dauer die Krise überwinden und die Gefahr eindämmen, immer wieder zu einer "medikamentösen Krücke" Zuflucht nehmen zu müssen - bis man hängenbleibt.

Schlafstörungen

Auch Schlafstörungen, vor allem Einschlafstörungen ("Einschlafstörungen sind Abschaltstörungen") sprechen gut auf Benzodiazepin-Tranquilizer an, ohne daß man gleich zu Schlafmitteln greifen muß. Weitere Einzelheiten s. das spezielle Kapitel.

Vegetative Störungen

Das sogenannte vegetative Nervensystem regelt die unbewußten, d. h. vom Willen weitgehend unabhängigen, "inneren" Lebensvorgänge und überwacht deren Anpassung an die Erfordernisse der Umwelt. Auch als autonomes Nervensystem bezeichnet, steht es in engem Zusammenhang mit Gefühlen, Stimmung, Befindlichkeiten, woraus dann eine komplexe körperliche Reaktion resultiert - je nach einwirkenden Affekten: Schwitzen, Erröten, Herzklopfen, Blutdruckanstieg, Harndrang, hechelnde Atmung (Hyperventilation), Durchfall, im Extremfall Angst- und Panikzustände, Wut, schließlich Ohnmacht, "Bewegungssturm", ja blinde Gewalttätigkeit usw.

Solche vegetativen Störungen auf der Grundlage entsprechender Gefühle oder Emotionen sind vor allem durch psychologische Mittel zu mildern oder zu beheben (s. o.). Als zeitlich begrenzte Zusatzmedikation zur Psychotherapie einschließlich soziotherapeutischer Korrekturen (Partnerschaft, Beruf usw.) kann aber vorübergehend der Einsatz von Tranquilizern hilfreich sein, vor allem bei sogenannten "psychovegetativen Dysfunktionen" sowie psychosomatisch interpretierbaren Beschwerden, Störungen oder Erkrankungen (= seelische Probleme, die sich körperlich äußern). Ähnliches gilt für akute Streßsituationen mit entsprechenden Folgen.

Doch auch hier darf man die alte Erkenntnis nicht verdrängen: Eine rein chemische "Versorgung" ohne psychotherapeutische Aufarbeitung, entsprechende Eigenleistung und vor allem psychosoziale Korrekturen (Streß) mündet in eine Sackgasse (Suchtgefahr!).

Neurologische Leiden

In der Neurologie haben die Tranquilizer einen großen Indikationsbereich, der dort auch zu weniger Entgleisungsgefahren führt. Vor allem bestimmte Krampfanfälle, aber auch spastische Zustände, Myogelosen, Myalgien usw. sprechen im Rahmen eines Gesamtbehandlungsplanes gut auf Benzodiazepine an.

Psychiatrische Krankheitsbilder

Tranquilizer können auch - zusätzlich zur Psychotherapie, Soziotherapie und antidepressiven Pharmakotherapie - bei psychogenen (reaktive, neurotische u. a.) Depressionen, vor allem aber bei endogenen und körperlich begründbaren Depressionen hilfreich sein. Dies betrifft insbesondere ängstlich-gespannte, unruhige oder gar erregte depressive Zustandsbilder (Selbsttötungsgefahr). Einerseits wirken sie auch hier im Verbund mit dämpfenden Antidepressiva zusätzlich angst- und spannungslösend. Andererseits "greifen" sie vor allem sofort, während die Antidepressiva doch eine gewisse Anlaufzeit benötigen, insbesondere was ihre Stimmungsaufhellung anbelangt.

Dabei muss allerdings klar sein, dass die Tranquilizer vom Benzodiazepin-Typ selber keine antidepressive, also stimmungsaufhellende Wirkung haben. Diese Eigenschaft besitzen einzig und allein die Antidepressiva.

Im weiteren können die Tranquilizer vom Benzodiazepin-Typ bei Zuständen akuter Dekompensation im Rahmen psychischer Krisen nützlich sein, nicht zuletzt wenn eine Suizidgefahr (Selbsttötungsgefahr) droht. Hier wird der Arzt allerdings vorsichtshalber die verordnete Menge so klein wie möglich rezeptieren und den Patienten lieber öfter einbestellen, um das verhängnisvolle Sammeln der Arzneimittel und damit eine suizidale Vergiftungsgefahr auszuschließen. Selbst bei schizophrenen und organischen Psychosen mit unruhigen, gespannten, vielleicht sogar zu aggressiven Durchbrüchen und zu Gewalttätigkeit neigendem Beschwerdebild ist - zusätzlich zu den notwendigen Neuroleptika - eine kurzfristige Tranquilizer-Gabe hilfreich.

Überhaupt weiß man schon aus den ersten Tierversuchen mit Benzodiazepinen vor Jahrzehnten um die aggressionshemmende Wirkung dieser Substanzen. Damit läßt sich ggf. eine befürchtete Aggressionsbereitschaft zumindest in den meisten Fällen und vorübergehend bremsen, von der leichteren Reizbarkeit bis zum bedrohlichen Gewalttätigkeitspotential. Über zu lange Zeit gegeben oder gar im Rahmen des Entzugs dieser Medikamente ist allerdings wieder mit einem Anstieg aggressiver Regungen zu rechnen (s. später).

Weitere Behandlungsmöglichkeiten

Weitere, zeitlich begrenzte Indikationen für Benzodiazepin-Tranquilizer finden sich in den jeweils spezifischen Bereichen von Anästhesiologie (z. B. Prämedikation bei der Narkose, u. U. kombinierte Schmerzbehandlung: Schmerz- und Beruhigungsmittel), ferner in Chirurgie, Dermatologie, Gynäkologie/Geburtshilfe, HNO-Kunde, Innerer Medizin, Pädiatrie, Orthopädie u. a. m.

NEBENWIRKUNGEN DURCH TRANQUILIZER UND SCHLAFMITTEL VOM BENZODIAZEPIN-TYP

Die Nebenwirkungen praktisch aller Arzneimittel sind abhängig von Wirkstoff, Dosis, Behandlungsdauer, Arzneimittel-Wechselwirkungen mit anderen Substanzen, von Gesundheitszustand, individueller Disposition, Alter, Stress u.a.

Die unerwünschten Begleiterscheinungen der Benzodiazepine sind darüber hinaus noch ein psychopharmakologisch fast einzigartiges Phänomen: Zum einen von einer schier unfaßbaren Vielfalt, wie sie scheinbar kaum auf eine einzige Stoffklasse zurückgeführt werden kann, zum anderen weitgehend unbekannt, ja beschönigt - und zwar nicht nur in der Allgemeinheit, sondern auch lange Zeit in Ärztekreisen. Was sind das nun für Nebenwirkungen, die so viele Jahre hinweg nicht ernstgenommen wurden?

Die häufigsten Nebenwirkungen, die bereits nach kurzer Einnahmezeit durch Tranquilizer und Schlafmittel vom Benzodiazepin-Typ auftreten können, sind:

Psychisch/psychosozial: Dämpfung, Schläfrigkeit, reduzierte Bewußtseinshelligkeit, Mattigkeit, Benommenheit, ggf. paradoxe Reaktionen (z. B. akute Erregungszustände, Wutanfälle), ferner anterograde Amnesie (s. später), depressive Verstimmungen usw.

Körperlich: Blutdruckabfall, Atembeschwerden (zentralnervöse bedingte Abflachung der Atemzüge - s. später), Mundtrockenheit, Muskelschwäche, Magen-Darm-, Appetit-, Sexual- und Koordinationsstörungen sowie eine verlängerte Reaktionszeit (Verkehr!) u. a.

Beschwerdebild bei mittelfristigem bis Langzeitgebrauch von Tranquilizern

Die Gabe von Benzodiazepin-Tranquilizern sollte so kurz wie möglich erfolgen. Als obere zeitliche Grenze werden 3 bis 4, manchmal auch 6 Wochen diskutiert. Darüber hinaus muß man von einem mittelfristigen bis längeren Gebrauch sprechen, der zu folgenden Konsequenzen führen kann:

Psychische und psychosoziale Nebenwirkungen

Bei den psychischen und psychosozialen Nebenwirkungen sind es vor allem

- gleichgültige bis euphorische Grundstimmung (inhaltloses Glücksgefühl).

- Damit wachsende Unfähigkeit, Belastungs- und Konfliktreaktionen selbstkritisch, planend und vorausdenkend zu begegnen ("in den Tag hineinleben").

- Zunehmende Benommenheit, Müdigkeit und Schläfrigkeit.

- Einschränkung der Aufmerksamkeit, Konzentrationsschwäche und Vergeßlichkeit, ggf. Erinnerungslücken (s. später).

- Seelisch-körperliche Verlangsamung und damit auch Reaktionszeitverlängerung (Verkehr, Haushalt, Beruf!).

- Wachsende Verstimmungszustände, gemütsmäßiger Kontrollverlust Reiz-barkeit und ggf. aggressiven Durchbrüchen (obgleich diese Arzneimittel bei kurzfristigem Einsatz durchaus erfolgreich gegen genau diese unangenehmen Ausfälle genutzt werden können). Manchmal regelrecht feindseliges Verhalten.

- Innere Unruhe, Nervosität, Fahrigkeit.

- Unerklärliche Angstzustände (vor "ich weiß nicht was"), zunehmende Furchtbereitschaft (vor bestimmten Situationen, Personen, Dingen); Flucht aus der Realität.

- Gelegentlich Orientierungsstörungen (örtlich, zeitlich, zur eigenen Person, im Extremfall Verwirrtheitszustände).

- Mangelnde Belastbarkeit mit Leistungsabfall. Dies nicht zuletzt bei plötzlichem Aufgabenzuwachs oder (krankheits- bzw. urlaubsbedingten) Versetzungen, bei denen die bisher alles überspielende Routine nicht mehr greift.

- Ggf. "unerklärliche" Bewußtseinstrübungen oder gar delir-ähnliche Zustände, wahnhafte Reaktionen mit Trugwahrnehmungen, u. U. Suizidgefahr.

Körperliche Nebenwirkungen

In körperlicher Hinsicht drohen Schlafstörungen mit Alpträumen. Appetit- und Gewichtszunahme. Juckreiz. Störungen der Monatsblutung. Nachlassen von sexuellem Verlangen und Potenz. Kopfschmerzen. Herzrasen, unklare Herzschmerzen. Schwindel, Zittern, Gefühlsstörungen. Bewegungsunsicherheit bis zur Kollapsgefahr (besonders im höheren Lebensalter = Muskelerschlaffung). Uncharakteristische Sehstörungen (Unscharfsehen bis flüchtige Doppelbilder).

Besondere Nebenwirkungsrisiken im höheren Lebensalter sind allgemeine Verminderung der Bewußtseinslage, Somnolenz (apathisch, verlangsamt, schläfrig usw.), Verwirrtheitszustände, Delir-Gefahr, ferner Schwindel, Kollapszustände, Gehstörungen, erhöhte Unfallgefahr (Oberschenkelhalsfraktur, Schädelprellung usw.). Vorsicht vor Paradoxreaktionen (s. u.).

Paradoxe Medikamentenfolgen

Manchmal, insbesondere im höheren Lebensalter, reagieren die Betreffenden auf die ja an sich beruhigenden, entspannenden, angstlösenden, schlafanstoßenden und aggressionshemmenden Benzodiazepin-Tranquilizer und -Schlafmittel paradox:
Dann fühlen sie sich plötzlich "belebt", "frisch", aber auch bald unruhig, gespannt, überdreht, reizbar, aggressiv, ja feindselig usw. - und geraten in Angst oder Panik. Diskutiert wird als Ursache eine zusätzliche Senkung der im Alter ohnehin verminderten zerebralen (Gehirn-)Durchblutung. Auch Ein- und Durchschlafstörungen sowie eine Umkehr des Schlaf-Wach-Rhythmus sind möglich.

Besonders die - an sich ja ungewöhnliche - "belebende" und "erfrischende" oder gar "aktivierende" Wirkung durch ein Beruhigungsmittel pflegt oft ein Hinweis auf die bereits erfolgte Medikamenten-Abhängigkeit sein.

Überdosierungserscheinungen und schleichende Vergiftung

Überdosierungserscheinungen durch Benzodiazepine sind auch bei gleichbleibend niedriger Einnahme möglich. Denn viele dieser Substanzen werden nur langsam ausgeschieden. Dadurch können sie sich im Organismus anreichern. Es muß sich also bei einer möglicherweise stärkeren Wirkung nicht nur um eine plötzlich von außen zugeführte Überdosis handeln, wie sie gelegentlich bei Altersverwirrtheit oder gar in suizidaler Absicht droht. Sie ist auch durch eine unbemerkte, gleichsam schleichende Anreicherung dieser Substanzen nicht auszuschließen. Mit welchen Symptomen ist zu rechnen?

Überdosierungssymptome: seelische und körperliche Verlangsamung, muskuläre Schwäche, Gangunsicherheit, ernstere Schwindelzustände, verstärkte Übelkeit, wachsende Kopfschmerzen, verwaschene ("schleifende") Aussprache, Augenmuskelstörungen (Doppelbilder) usw.

Vor allem in seelisch-geistiger Hinsicht findet sich eine scheinbar erfreuliche Gelassenheit, die sich allerdings bei näherem Hinsehen als wachsende Gleichgültigkeit (Fachausdruck: Indolenz) entpuppt. Sie kommt zwar nur selten zur Sprache, wird wohl auch von den meisten Betroffenen und sogar Angehörigen, Mitarbeitern usw. gar nicht richtig realisiert. Dafür kann sie auf Dauer zum Kernproblem eines Tranquilizer-Mißbrauchs werden, auch wenn sich viele andere Symptome in den Vordergrund schieben.

Chronische Vergiftung: Selbst eine schleichende Intoxikation (Vergiftung) wird meist nicht (rechtzeitig) erkannt. Dazu gehört die bereits erwähnte Indolenz, eine Gleichgültigkeit, die man inzwischen schon fast als "Wurstigkeit" bezeichnen muß, sowie ein zunehmendes Desinteresse an Hobbies, Aufgaben, schließlich Umwelt, Familie, Beruf usw. Am Schluß sieht es so aus, als sei die Persönlichkeit regelrecht nivelliert ("eingeebnet").

Als weitere Überdosierungs- oder (noch) unterschwellige Vergiftungs-Symptome gelten: Vergeßlichkeit ("zerstreut"), mißgestimmt-depressive Dauerzustände, Appetitlosigkeit, Muskelschwäche ("matt", "unsicher") usw.

In psychosozialer Hinsicht zeigt sich jetzt nicht nur eine medikamentöse, sondern auch seelische Fixierung an das Arzneimittel: ständiges Bei-sich-Führen entsprechender Medikamente, Rezept in Reserve, immer häufiger Rezeptwünsche beim Arzt, falls möglich bei weiteren Ärzten usw. Schließlich die Anlage von Tablettendepots, ähnlich den versteckten "Flaschen-Batterien" von Alkoholkranken, nur nicht so grotesk ausgeklügelt, weil sich Arzneimittelschachteln besser verstecken lassen.

Ein solches "Versteckspiel" ist natürlich für den Betroffenen (und seine Angehörigen) keinesfalls lustig, sondern demütigend und bezüglich der Entdeckungsgefahr weitaus "entnervender" als man annehmen möchte. Dieses traurige Phänomen zählt deshalb zu den psychosozialen Hinweisen einer inzwischen eingetretenen Tabletten-Abhängigkeit, die ihre Opfer ja genauso entwürdigt oder gar lächerlich macht wie die "Freiheitsberaubung durch andere Suchtformen" auch.

Therapieversuche bei Benzodiazepin-Nebenwirkungen

Obgleich die Nebenwirkungen durch Benzodiazepine z. T. sehr ernster Natur sind, können dafür keine Therapiehinweise gegeben werden. Denn im Gegensatz zu den Neuroleptika und Antidepressiva, die ausreichend hoch dosiert und lange genug, u. U. über Monate oder gar Jahre hinweg zwingend eingenommen, d. h. mit ihren Begleiterscheinungen ggf. längere Zeit ausgehalten werden müssen, ist dies bei den Beruhigungs- und Schlafmitteln vom Benzodiazepin-Typ anders. Diese Präparate sind wichtig und nützlich, aber erstens zeitlich begrenzt einzunehmen, so daß es gar nicht zu den erwähnten mittelfristigen bis Langzeitfolgen kommen sollte. Zweitens sind sie keinesfalls unersetzlich. Sind Medikamente mit gleichem Wirkeffekt unerläßlich, können auch - bei erstmaligem Bedarf - psychotrope (auf das Zentrale Nervensystem zielende) pflanzliche Arzneimittel, später niederpotente Neuroleptika und andere Substanzen beruhigend, angstlösend und schlafanstoßend einspringen. Es ist zwar richtig, daß die Benzodiazepine diese Aufgaben besonders gut und für die Betroffenen scheinbar "unverzichtbar" erledigen, aber darin liegt ja auch ihre bedenkliche Sogwirkung.

Deshalb finden sich bei den entsprechenden Nebenwirkungen in diesem Kapitel keine lindernden Therapieempfehlungen, sondern konkrete Mahnungen, gleichsam eine Rubrik mit der Überschrift "vorbeugende Vorsicht":

Keine Einnahme von Benzodiazepin-Tranquilizern und -Schlafmitteln ohne ärztliche Untersuchung und Verordnung. Keine "Verordnungsautomatie" einreißen lassen oder gar erzwingen (Arzt unter Druck setzen). Sich stets bei erneuten Verschreibungen fragen, seit wann und wie viel man schon bisher eingenommen hat. Und ob es noch notwendig ist, dies fortzuführen - und wenn ja, wie lange noch.

Wichtig, um den drohenden Entzugserscheinungen nicht arglos Vorschub zu leisten: falls Behandlungsabschluß geplant, nicht abrupt absetzen, sondern nur unter ärztlicher Kontrolle langsam, aber konsequent ausschleichen (s. später).

SPEZIELLE ASPEKTE

Gegenanzeigen und Vorsichtsmaßnahmen

Als Gegenanzeigen (Kontraindikationen) und Vorsichtsmaßnahmen beim Einsatz von Tranquilizern und Schlafmitteln vom Benzodiazepin-Typ gelten:

Akute Vergiftungen mit zentral (d.h. vor allem das Gehirn) dämpfenden Pharmaka wie Schlaf-, Schmerz- und anderen Beruhigungsmitteln); - Psychopharmaka wie Neuroleptika, Antidepressiva und Lithiumsalze. Vor allem akute Vergiftungen mit Alkohol! Ferner Überempfindlichkeitsreaktionen gegen diese Substanzen sowie Myasthenia gravis, Schwangerschaft und Stillzeit (s. später). Nicht zuletzt natürlich eine bereits vorliegende Suchtentwicklung. - Vorsicht bei schweren Leberschäden (z. B. cholestatischer Ikterus), Koordinationsstörungen (Gleichgewichtsstörungen verschiedener Ursache), dem sogenannten Schlaf-Apnoe-Syndrom (s. das Kapitel Schlaf), bei chronischem Lungenleiden sowie bei älteren Patienten, besonders mit verminderter Leber- und Nierenfunktion usw.

Schwangerschaft

Obwohl die Beruhigungs- und Schlafmittel vom Benzodiazepin-Typ nicht zu jenen Medikamenten gehören, die sich aufs strengste bei einer Schwangerschaft verbieten, und obgleich sicher nicht wenige Schwangere trotz Einnahme dieser Präparate gesunde Kinder geboren haben, ist die Diskussion um eine mögliche teratogene (fruchtschädigende) Wirkung dieser Substanzen nie verstummt. Tatsächlich finden sich Hinweise auf Fehl- sowie Mißbildungen: z. B. Lippen- bzw. Kiefer-Gaumen-Spalten, Herz- und Gefäßmißbildungen, aber auch geistige Entwicklungsverzögerungen usw. Sicherlich sind sie - falls ein schädigender Einfluß überhaupt beweisbar ist, jedenfalls mit den derzeit verfügbaren Methoden -, eher selten, aber eben auch nie ausschließbar. Auch scheinen bisher vorwiegend ältere Präparate betroffen, was aber letztlich nur beweist: Je länger auf dem Arzneimittelmarkt verfügbar, desto eher ist mit entsprechenden Erkenntnissen zu rechnen - schon aus rein zeitlichen Gründen. Bei neueren Präparaten ist einfach noch nicht der volle Erfahrungszeitraum ausgeschöpft. Eines aber ist auf jeden Fall erkennbar:

Beruhigungs- und Schlafmittel vom Benzodiazepin-Typ sollten während der gesamten Schwangerschaft nur unter strenger Indikationsstellung (Heilanzeige) eingesetzt werden. Dies gilt vor allem für die ersten Schwangerschaftsmonate. Und wenn sie unumgänglich sind, dann müssen sie unter ärztlicher Kontrolle so niedrig wie möglich dosiert werden.

Zum anderen aber sind diese Substanzen nicht nur in der Frühschwangerschaft, sondern auch in den letzten Wochen vor der Niederkunft zu meiden. Denn die Benzodiazepine gehen über den Mutterkuchen in den kindlichen Blutkreislauf über und belasten damit auch das Ungeborene. Ist das Kind geboren und vom mütterlichen Kreislauf abgenabelt, wird damit auch die Zufuhr von dieser Substanz unterbrochen. Nun könnte man meinen, das Problem sei endlich gelöst. Doch es kann schwieriger werden als zuvor: Schließlich hat sich der kindliche Organismus über den mütterlichen Kreislauf an das Arzneimittel gewöhnt - und wird jetzt unvermittelt von seinem Nachschub abgeschnitten. Es droht also - wie bei einem Süchtigen generell - ein sogenanntes Abstinenz-Syndrom, ein Entzugs-Beschwerdebild: starkes Zittern, anhaltende Bewegungsunruhe, Blutdruckstörungen, Temperaturabfall, Erbrechen, Durchfall usw.

Ferner kommt es ggf. zu einem sogenannten "floppy-infant-Syndrom" (engl.: "schlaffes Kind"): Schlaffheit durch verminderte Muskelspannung, schwache Muskeleigenreflexe, ferner Schläfrigkeit, schwaches Saugen ("Trinkfaulheit"), Schreischwäche, Lethargie (matt, kraftlos), flache oder gar kurzfristig aussetzende Atmung u. a.

Da das Neugeborene die Benzodiazepine nur sehr langsam abzubauen vermag, können sich diese Folgen auch noch nach mehreren Tagen oder gar Wochen entwickeln - und keiner weiß dann mehr, um was es sich handelt und woher es kommt.

Stillzeit

Benzodiazepine gehen in die Muttermilch über. Damit ist bei dem empfindlichen Organismus des Säuglings auch mit entsprechenden Beeinträchtigungen zu rechnen. Denn das Neugeborene vermag - wie bereits erwähnt - diese Substanzen nur sehr langsam abzubauen, weshalb sie sich bei ständiger Zufuhr im Körper anreichern und schließlich sogar auf diesem Wege zu spürbaren Konsequenzen führen können (s. o.).

Ernstere körperliche Folgen: Herz-Kreislauf und Atmung

Über die gängigen Nebenwirkungen wurde bereits ausführlich berichtet. Sie sind in der Regel eher lästig als quälend oder gar gefährlich. In zwei Punkten muß man sich jedoch vorsehen, auch wenn sich die Benzodiazepine durch eine große therapeutische Breite auszeichnen (therapeutische Breite = Maß für die Sicherheit einer Substanz: Bereich zwischen jeweils minimal wirksamer und toxischer = vergiftungsgefährlicher Dosis). Dazu gehören

- Herz-Kreislauf-Folgen: Im allgemeinen kommt es unter den Benzodiazepinen zu einem leichten Abfall des Blutdrucks mit entsprechender Erhöhung der Herzschlagfolge, die den abgesunkenen Blutdruck wieder auszugleichen versucht. Dieser blutdrucksenkende Effekt ist einerseits vom vorbestehenden Blutdruckverhalten (je niederer, desto lästiger), aber auch von der Substanz und natürlich von der Dosis abhängig. Vor allem letzteres kann auch zur Sorge Anlaß geben. Denn wenn man die Benzodiazepine intravenös (i. v. = in die Venen) zu rasch oder zu hoch dosiert, kann es im Extremfall zu ernsten Herz-Kreislauf-Folgen, insbesondere zu einem bedrohlichen Blutdruckabfall kommen.

- Wirkung auf das Atemsystem: Unter intravenöser Gabe von Benzodiazepinen, etwa zur Einleitung einer Narkose, ist auch eine sogenannte Atemdepression nicht auszuschließen: Das ist die zentralnervös (Gehirn) bedingte Abflachung der Atemzüge bis hin zum Atemstillstand als Ausdruck mangelnder Leistung des Atemzentrums. Dies kann besonders dann gefährlich werden, wenn noch andere Substanzen dazu gegeben werden müssen, die eine ähnliche Wirkung entfalten, z. B. starke Schmerzmittel, insbesondere opiathaltige. Auch der Effekt auf das Atemsystem ist meist dosisabhängig.

Aus diesen Erkenntnissen ergeben sich deshalb folgende Empfehlungen:

Vor der Verordnung höherer Dosen eines Benzodiazepin-Präparates muß der Patient eingehend untersucht werden. Problematisch wird es bei ernsteren Herz-Kreislauf-Störungen sowie bei Lungenleiden (Asthma bronchiale, spastische Bronchitis u. a.).

Besondere Vorsicht ist bei intravenöser Gabe geboten, speziell wenn es sich um ältere und/oder herz-kreislauf-vorgeschädigte oder -labile Patienten handelt.

Wenn überhaupt, muß die intravenöse Gabe sehr langsam und unter besonderen Vorsichtsmaßnahmen erfolgen. Dies vor allem dann, wenn noch andere - entsprechend belastende - Medikamente verordnet werden müssen.

Als Kompromiß gilt eine besonders geringe Dosis, auf jeden Fall aber eine kontinuierliche Überwachung des Patienten, um bei den geringsten Anzeichen entsprechend eingreifen zu können (z. B. Bewußtseinseintrübung, schwache, schnappende oder unregelmäßige Atemzüge, Schweißausbruch, Herzjagen usw.).

Suizidgefahr

Beruhigungs- und Schlafmittel vom Typ der Benzodiazepine werden zwar realtiv häufig zu Selbsttötungsversuchen mißbraucht. Glücklicherweise haben sie aber die bereits erwähnte große therapeutische Breite und gelten deshalb in dieser Hinsicht als weniger problematisch wie andere (Psycho-)Pharmaka. Doch ist ein unglücklicher Ausgang natürlich nie auszuschließen. Auch kann in einer solchen Situation ein Koma drohen. Dabei kann es beim Erbrechen in Bewußtlosigkeit durch Wiederansaugen des Erbrochenen (Aspiration) mit Fehlleitung in die Luftröhre zu einer Lungenentzündung kommen (Aspirationspneumonie).

Gefährlich sind vor allem mehrschichtige Vergiftungen (Mischintoxikationen) und die Folgen verschiedener Selbsttötungsmethoden auf einmal, wobei Beruhigungs- und Schlafmittel oft als Hemmungslöser für härtere Suizidverfahren herangezogen werden. Deshalb sei kurz zusammengefasst:

Im entsprechenden Vergiftungsfall - bewußt als Suizidversuch oder irrtümlich - umgehend Notfalleinweisung, auch wenn der Zustand auf den ersten Blick weniger dramatisch (oder "demonstrativ") erscheint. Da niemand sagen kann, was in welcher Dosis genommen wurde, ist der Patient nur in der Klinik sicher. Dort allerdings ist man auf möglichst viele Informationen angewiesen. Diese wiederum können nur jene liefern, die den Betroffenen gefunden haben, sein näheres und weiteres Umfeld kennen und vor allem die Umgebung inspizieren konnten.

Trotz aller Aufregung erweist es sich deshalb als hilfreich, wenn man nach umgehender Information von Notarzt bzw. Sanitätswagen anschließend noch folgende wichtige Aufgaben erfüllen könnte:

Atemwege freihalten: Zahnprothese und ggf. Erbrochenes entfernen, Bewußtlosen in stabile Seitenlage bringen.

Danach Inspektion der Umgebung: Abschiedsbrief? Leere Arzneimittelpackungen? Arzneimittelreste in Glas oder Spritze in die Klinik mitschicken, Beschriftung (Name, Zeit, ggf. Material) nicht vergessen. Kontrolle von Abfallkörben, Küche, WC (weggeworfene Beipackzettel, Döschen, Röhrchen, Fläschchen usw.). JedochVorsicht: bewußte Irreführung möglich.

Arzneimittel-Wechselwirkungen

Einzelheiten über die Problematik der Arzneimittel-Wechselwirkungen s. die Kapitel Antidepressiva und Neuroleptika. Denn vor allem für diese beiden Stoffklassen kann die Einnahme mehrerer Arzneimittel auf einmal, die sich nicht vertragen, zum ernsten Problem werden. Dies vor allem im höheren Lebensalter, wo die Vielzahl von Erkrankungen und Beschwerden auch eine Vielzahl von Arzneimitteln erzwingt, die sich ggf. in ihrer Wirkung verstärken oder abschwächen bzw. die unerwünschten Begleiterscheinungen vergrößern. Etwas anderes ist es bei den Schlaf- und vor allem Beruhigungsmitteln. Beide sollten nur kurzfristig eingesetzt werden. Bei Bedarf muß man ja auch zur gleichen Zeit mit der Aufarbeitung oder Behebung der seelischen, psychosozialen bzw. organischen Ursachen beginnen. Deshalb erscheint zumindest das Problem der Arzneimittel-Interaktion hier nicht so unlösbar.

Ist jedoch eine Mehrfach-Behandlung unumgänglich, so sollte man bei ungewöhnlicher Wirkungsverstärkung oder besonders ausgeprägten unerwünschten Begleiterscheinungen auf folgende ungünstige Medikamenten-Kombinationen achten (Vorsicht im Verkehr, an gefährlichen Arbeitsplätzen sowie im Haushalt):

Eine Wirkungsverstärkung einzelner Tranquilizer und Schlafmittel vom Typ der Benzodiazepine ist durch andere zentralwirksame Arzneimittel, irreversible MAO-Hemmer, Alkoholgenuß sowie eine Reihe weiterer Einzelsubstanzen zu erwarten.

Eine Wirkungsverminderung droht durch Antazida, Antiepileptika, chronischen Alkoholkonsum, Rauchen sowie die manchmal noch als Schlafmittel oder Antiepileptika eingesetzten Barbiturate.

Eine Wirkungssteigerung anderer Substanzen durch Benzodiazepine ist nicht auszuschließen bei Antidepressiva, Neuroleptika, anderen sedierenden (dämpfenden) Arzneimitteln wie z. B. Schlafmittel, bei Antihistaminika, muskelerschlaffenden Mitteln (Muskelrelaxantien) sowie wiederum Alkohol.

Alkohol und Beruhigungs- sowie Schlafmittel vom Typ der Benzodiazepine verstärken vor allem gegenseitig ihre dämpfende und muskelerschlaffende Wirkung. Folge: Merk- und Konzentrationsstörungen, Vergeßlichkeit, Müdigkeit, Abgeschlagenheit, verlangsamte Reaktionszeit (Verkehr!), ferner Blutdruckabfall mit Schwindel, Übelkeit, Koordinations-, insbesondere Gehstörungen u. a.

Vorsicht bei Alkoholkonsum: Er beeinflusst auf jeden Fall Wirkung und Nebenwirkungen der Tranquilizer und Schlafmittel vom Benzodiazepin-Typ.

Schließlich ist auch mit einer Wirkungsverminderung anderer Arzneimittel durch Benzodiazepine zu rechnen: trizyklische Antidepressiva, bestimmte Neuroleptika (sogenannte Phenothiazine), ferner Kortikosteroide, Digitoxin, Chinidin, Tetracyclin usw.

Schlußfolgerung: Schon allein durch diese Arzneimittel-Wechselwirkungen zeigt sich, daß Beruhigungsmittel keine "harmlosen Pillen" sind, die man unkritisch und bedenkenlos über längere Zeit einnehmen kann.

Halbwertszeit und Wirkdauer

Ein wichtiger Therapiefaktor ist die sogenannte Plasma-Eliminations-Halbwertszeit. Das ist die Verweildauer der jeweiligen Substanz im Organismus (also jene Zeit, in der die Plasmakonzentration um die Hälfte reduziert wird). Deshalb ist es wichtig zu wissen, daß es auch unter den Beruhigungs- und Schlafmitteln vom Typ der Benzodiazepine Präparate mit ganz erheblich unterschiedlicher Halbwertszeit und damit Wirkdauer gibt. Das geht von wenigen Stunden bis zu mehr als einem ganzen Tag.

Nachfolgend eine etwas ausführlichere Darstellung dieser, für den Alltag nicht unwesentlichen Erkenntnis. Zuvor jedoch einige Anmerkungen:

1. Stoffwechsel-Zwischenprodukte:
Manche Arzneimittel setzen sich aus mehreren Substanzen zusammen. Doch selbst diejenigen, die nur aus einem einzigen Stoff bestehen, zerfallen während des biologischen Stoffwechsels u. U. in verschiedene Zwischen-, Abbau- oder Endprodukte. Diese können entweder therapeutisch unwirksam oder teilweise bzw. für sich genommen ebenfalls voll wirksam sein. Solche Stoffwechsel-Zwischenprodukte eines Arzneimittels nennt man Metaboliten. Bei der Frage: "Wie lange wirkt ein Medikament (Halbwertszeit)? muß man deshalb beachten, ob nur das Ausgangsprodukt oder auch seine Metaboliten wirksam sind. Auf diese Weise kann sich nämlich die Wirkdauer verlängern. Manchmal achtet man nur auf die Hauptprodukte und vergißt die Wirksamkeit der Abbauprodukte. Dann kann man sich natürlich wundern, weshalb das Arzneimittel z.B. nur so und so lange beruhigen soll, in Wirklichkeit aber ungewöhnlich lange dämpft oder gar müde macht.

2. Individuelle Abbau-Geschwindigkeit:
Im weiteren finden sich gerade bei der Halbwertszeit von Fall zu Fall erhebliche Unterschiede in der sogenannten Eliminationsgeschwindigkeit, also der Zeiteinheit, in der der Stoff ausgeschieden ist. Dies hängt mit individuellen körpereigenen Faktoren zusammen.

3. Wirkdauer nicht abschätzbar:
Schließlich läßt sich auch zwischen Halbwertszeit und Wirkdauer nicht immer ein direkter Zusammenhang erkennen. So kann der Patient z. B. keinerlei Wirkung mehr verspüren, doch das Mittel ist im Organismus noch durchaus verfügbar, was erst durch die Einnahme zusätzlicher Substanzen und vor allem Alkohol deutlich wird.

Eines der Ergebnisse solcher Überlegungen für den Alltag ist die Einteilung von Beruhigungs- und Schlafmitteln in kurzwirksame, mittellang und lang wirkende. Denn es ist ja in der Tat nicht unerheblich, wie lange solche Arzneimittel wirken bzw. nachwirken. Denn das eine ist erwünscht, das andere nur bedingt. Doch ein Wirkeffekt auf Knopfdruck, den man beliebig ein- und ausschalten könnte, ist nicht möglich. Hier spielen zu viele Faktoren mit herein: pharmakologische, organische und psychosoziale. Nachfolgend deshalb einige Hinweise zur Frage:

Was haben die kurz-, mittellang und lang wirkenden Beruhigungs- und Schlafmittel für Vor- und Nachteile (Einteilung mit entsprechenden Präparate-Namen s. Fachinformation für den Arzt usw.).

Kurz wirksame Beruhigungs- und Schlafmittel

Je kürzer die Halbwertszeit und je weniger aktive, d. h. kurz- bzw. längerwirkende Metaboliten (s. o.), desto besser lassen sich Tranquilizer und Schlafmittel steuern. Es kommt zu keiner Kumulation (Anhäufung des Stoffes im Organismus) und damit zu keinem oder nur geringem "hang over" (Überhang, d. h. Nachwirkung) am nächsten Morgen bzw. in den kommenden Tag hinein.

Kurz wirksame Beruhigungs- und Schlafmittel wirken bis zu etwa 5 Stunden. Sie vermitteln häufig einen rascheren Wirkungseintritt und werden deshalb gerne bei akuten oder situationsbedingten Störungen eingesetzt (z. B. Trauer- oder Konfliktreaktionen, auf Reisen usw.).

Dafür kann ihre Wirkung gelegentlich weniger konstant ausfallen. Außerdem soll es häufiger zu kurzfristigen Erinnerungslücken kommen (s. später). Schließlich sei die Suchtgefahr verstärkt: Wenn das Mittel nur kurz wirkt, weil es rasch wieder ausgeschieden wird, dann findet die erneute Einnahme rascher einen aufnahmebereiten Organismus vor, der z. B. mit erneutem inhaltslosem Glücksgefühl (Euphorie) reagieren könnte. Kommt es jedoch bei mittellang oder lang wirkenden Substanzen zu keiner raschen Ausscheidung, sondern zu einer kontinuierlichen Anreicherung im Blutplasma, dann kann eine weitere Zufuhr keinen völlig neuen, in diesem Fall z. B. "chemisch beglückenden" und damit suchtgefährlichen Effekt entwickeln.

Bei den Schlafmitteln war man an sich froh, eine Schlafeinleitung gefunden zu haben, die nach kurzer Zeit wieder "losläßt" und dem natürlichen Schlaf Platz macht. So gesehen ist ein kurz wirksames (Ein-)Schlafmittel "ideal", nicht zuletzt deshalb, weil es am nächsten Morgen nicht mehr durch Müdigkeit behindert. Leider haben aber auch diese "Kurzschlafmittel" einen Nachteil: Wie später ausführlicher dargestellt, gewöhnt sich der Organismus nach einiger Zeit an die chemische Unterstützung, baut sie gleichsam in sein Stoffwechselsystem ein und reagiert dann bei Gewöhnung ungehalten, wenn der Nachschub ausbleibt. Er "protestiert" gleichsam durch entsprechende Entzugserscheinungen (Abstinenzsymptome). Bei mittellang oder gar lang wirkenden Benzodiazepinen kann es viele Stunden bis mehrere Tage dauern, bis diese Substanzen völlig ausgeschieden sind und der Organismus nach Ersatz verlangt. Ist das Produkt aber bereits nach wenigen Stunden völlig ausgeschiedent, drohen konsequenterweise die Entzugs-Beschwerden sofort.

Bei Schlafmitteln handelt es sich hier vor allem um erneute (Entzugs-)Schlafstörun-gen. Das hieße aber im unglücklichsten Falle, daß bei kurz wirksamen Schlafmitteln der Schlaf rasch eingeleitet, mit dem aber wenige Stunden darauf folgenden Entzug wieder gestört wird: Es sind also noch in der gleichen Nacht und gleichsam durch das gleiche Präparat folgende Abstinenzsymptome nicht auszuschliessen: Wiedererwachen, erschwertes Wiedereinschlafen, u. U. Schlaflosigkeit oder - falls der Betreffende wieder in Schlaf fällt - entzugsbedingte Alpträume mit Angstzuständen usw.

Ein solcher Ablauf ist zwar selten. Meist greift der Schlaf nach der chemischen Einleitung von selber, und zwar so ausgeprägt, daß mögliche Entzugserscheinungen keinen ernsteren Einfluß mehr ausüben können, d.h. folgenlos verschlafen werden. Oft trifft es auch nur überempfindliche Patienten. Doch gerade dort wirkt es sich am störendsten aus. Wer also eine solche Entwicklung bei sich registriert, sollte mit seinem Arzt darüber sprechen.

Zuletzt muß man wissen, daß sich selbst kurze Halbwertszeiten im höheren Lebensalter zu verlängern pflegen. Dieses Problem ergibt sich vor allem bei Patienten mit Gehirngefäßverkalkung oder anderen Abbauerscheinungen, deren Reaktion ungewöhnlich stark ausfallen kann, auf jeden Fall schwer kalkulierbar ist.

Alle diese Erkenntnisse haben die Hoffnung auf ein "ideales" kurz wirksames und nachwirkungsfreies Einschlafmittel leider relativiert. Dennoch gelten diese Produkte als ein therapeutischer Fortschritt, auch wenn man um ihre Grenzen wissen muß.

Mittellang wirksame Schlaf- und Beruhigungsmittel

Kurz wirkende Benzodiazepine wirken etwa bis zu 5 Stunden (s. o.). Mittellang wirkende Substanzen verteilen definitionsgemäß ihren Wirkeffekt auf 5 bis 24 Stunden. Als "Tages-Tranquilizer" eingesetzt, kann dies den ganzen Tag, als Schlafmittel die gesamte Nacht und mehr abdecken.

Als Nachteil gilt die mehr oder weniger ausgeprägte Kumulationsgefahr: Mehrfach pro Tag eingenommen ist die Zufuhr bald größer als die Abbaurate im Organismus, der Spiegel der chemischen Substanz im Blutplasma steigt langsam an, er kumuliert (vom lat.: cumulare = anhäufen). Die Folge ist eine - wohl unbeabsichtigte und zuerst kaum registrierte - Wirkungserhöhung, vielleicht sogar Überdosierung (s. diese). Dabei handelt es sich am ehesten um eine unerwünschte Dämpfung, sei es als Nacheffekt des Schlafmittels, sei es eine "unerklärlich zunehmende" Müdigkeit/Mattigkeit durch regelmäßige Einnahme eines Tages-Tranquilizers. Das muß dann meist mit Kaffee, Schwarztee oder Cola-Getränken, manchmal auch durch Rauchen wieder aufgefangen werden. Noch besser wäre es allerdings, man würde versuchen, seine individuelle Dosis herauszufinden, bei der z.B. die Nachwirkung am nächsten Morgen erträglich ist, ohne daß der schlaffördernde Effekt darunter leidet.

Lang wirksame Schlaf- und Beruhigungsmittel

Bei den lang wirksamen Benzodiazepinen liegt die Halbwertszeit bei mehr als 24 Stunden, meist durch aktive Metaboliten, also Stoffwechsel-Zwischenprodukte mit eigener Wirkung, die im Einzelfall bis zu 100 Stunden weiter wirken können. Hier sollte man sich der möglichen Gefahr einer Kumulation, also einer heimlichen Stoffanhäufung im Organismus schon bewußt sein, selbst wenn ernstere Nebenwirkungen erstaunlich selten sind. Vielleicht liegt dies auch daran, daß manche Menschen keine ausgeprägte Selbstbeobachtungsgabe pflegen und andere vor allem auf spektakuläre oder zumindest auffallende Nebenwirkungsfolgen fixiert sind. Viele dieser Langzeit-Konsequenzen sind aber sehr dezent und irritieren höchstens leicht, wenngleich auf Dauer durchaus lästig. Unverändert problematisch ist natürlich die zusätzliche Gefahr durch Alkoholkonsum.

Auch ist es richtig, daß Millionen Menschen Benzodiazepine als Beruhigungs- und Schlafmittel einnehmen, aber deshalb so gut wie keiner über den Bürgersteig wankt (und wenn, dann eher durch Alkoholeinfluß allein oder zusammen s.o.). Es wäre aber besser, man würde auf dezentere Begleiterscheinungen achten, weil sie auf Dauer ebenfalls beeinträchtigen und im Einzelfall sogar gefährden können. Dazu gehören:

Leichtere Benommenheit, kurzfristige Orientierungs-, Merk- und Konzentrationsstörungen, Erinnerungslücken (s. später), Reaktionszeitverlänge-rungen durch geistig-körperliche Verlangsamung, Einschränkung der Aufmerksamkeit, vorübergehende Bewegungsunsicherheit, ggf. länger anhaltende Muskelerschlaffung mit erhöhtem Unfallrisiko (vor allem nachts = Toilettengang, aber auch tagsüber) usw.

Natürlich sind die massiveren Beeinträchtigungen vor allem Extremfälle. Aber auch so etwas ist nie auszuschliessen. Dazwischen gibt es zahlreiche Abstufungen, bis hin zu leichteren Irritationen, die den meisten gar nicht auffallen und höchstens als alltägliche Befindensschwankungen interpretiert werden. Schließlich sollte man nicht vergessen, dass es nicht nur hypochondrisch-ängstliche Menschen gibt, die ständig in sich hineinhorchen, sondern - und das ist die Mehrzahl - auch solche, die nicht allzu sehr auf sich achten, selbst wenn es zweckmäßig wäre. Dennoch:

Wer lang wirksame Schlaf- und Beruhigungsmittel einnimmt und das eine oder andere der obigen Symptome immer wieder registrieren muß, der sollte sich mit seinem Arzt besprechen.

Erinnerungslücken durch Beruhigungs- und Schlafmittel?

Im Kapitel "Nebenwirkungen" wurde auch auf eine sonderbare Begleiterscheinung hingewiesen, über die immer wieder kontrovers diskutiert wird, obgleich sie natürlich so alt ist wie der Einsatz dieser Stoffe: nämlich Erinnerungslücken.

Tatsächlich kann schon eine einmalige Benzodiazepin-Dosis zu Erinnerungslücken führen, wenn auch nur kurzfristig und in den meisten Fällen wohl mehr oder weniger unbemerkt bzw. nicht so dramatisch empfunden. Dies betrifft sowohl Tranquilizer als auch Schlafmittel. So berichteten z. B. Transatlantik-Reisende, daß sie nach Einnahme eines entsprechenden Schlafmittels zwar gut geschlafen, jedoch am Zielort nicht mehr gewußt hätten, wie sie dort hingekommen seien ("traveler's amnesia"). Deshalb ging man diesem Phänomen wissenschaftlich nach und fand:

Keine der bisher vorliegenden Untersuchungen konnte eine eindeutige Verschlechterung des Gedächtnisses für die Zeit vor Einnahme der entsprechenden Substanz belegen (sogenannte retrograde Amnesie, wie sie z. B. nach Schädel-Hirn-Traumen berichtet wird, bei denen sich die Betroffenen nicht an den Unfall selber und eine bestimmte Zeit davor erinnern können). Dagegen finden sich gelegentlich Gedächtnislücken für einen bestimmten Zeitraum nach Einnahme der Benzodiazepine, in der Fachsprache als anterograde Amnesie bezeichnet. Diese Ausfälle hängen jedoch offenbar von verschiedenen Faktoren ab. Das sind

1. Die spezifischen physikalisch-chemischen Eigenschaften des jeweiligen Benzodiazepins.
2. Die Dosis: Höhere Dosen scheinen mehr Beeinträchtigungen zu hinterlassen als niedrigere.
3. Die Art der Anwendung: Tablette/Tropfen (langsam, dafür länger) oder intramuskuläre bzw. intravenöse Gabe (schneller und kürzer).
4. Die seelisch-körperliche Ausgangslage des Betreffenden: Gemüts- (Angst, Streß usw.) bzw. körperlicher Gesundheitszustand, Alter, zusätzliche Einnahme von Alkohol (!) oder anderen Medikamenten sowie weitere individuelle und Umweltfaktoren.
5. Die Art der Erinnerungs-Anforderungen: Je schwieriger die Aufgaben, desto deutlicher die Einbuße. Je weniger bedeutungsvoll und verständlicher der zu erinnernde Inhalt, desto stärker die Beeinträchtigung usw.
6. Der Zeitverlauf: Entscheidend kann auch der Zeitpunkt der Medikamentengabe bzw. der erforderlichen Erinnerungsleistung werden (je differenzierter, desto schwieriger?).

Gelegentlich wird auch versucht, aus solchen ggf. medikamentös bedingten Erinnerungslücken einen Vorteil zu ziehen (was immer man damit erreichen oder entschuldigen will). Dem scheint jedoch bisher kein Erfolg beschieden zu sein. Dafür ist die wissenschaftliche Aufarbeitung dieses Problems noch nicht weit genug. Auch müssen dann erst die Rechtsmediziner und Juristen entscheiden, welchen Stellenwert sie solchen Erinnerungslücken beizumessen gedenken.

Trotz allem sollte aber jeder (regelmäßige) Benzodiazepin-Konsument für sich die Möglichkeit solcher Erinnerungslücken geprüft haben. Auch wird dadurch erneut deutlich, dass es sich hier nicht - wie jahrelang vermutet - um die schon erwähnten "harmloses Glückspillen" handelt, sondern um wirkungsvolle Arzneimittel mit durchaus ernstzunehmenden Folgen bei unkritischem Gebrauch, vom längerfristigen Mißbrauch ganz zu schweigen.

Alkohol- sowie Schlaf- und Beruhigungsmittel

Alkohol
In mehreren Kapiteln (z. B. Arzneimittel-Wechselwirkungen, Gedächtnislücken) klang bereits die Mahnung an, Alkohol zu meiden, wenn man Beruhigungs- und Schlafmittel vom Typ der Benzodiazepine nehmen muß. Im Grunde erkennt das jeder Betroffene selber rasch (nicht zuletzt durch das Studium der Packungsbeilage) und richtet sich danach. Für die anderen Psychopharmaka (z. B. Antidepressiva, Neuroleptika) gilt natürlich das gleiche. Nur ist dort bei den entsprechenden Beschwerdebildern die ärztliche Überwachung intensiver, und damit auch die Mahnung zur Alkohol-Abstinenz. Dagegen werden Beruhigungs- und Schlafmittel nicht selten in eigener Regie genommen, gleichsam aus den Restbeständen der Hausapotheke, oder ausgeliehen von Verwandten, Freunden, Nachbarn usw. Hier entfällt also diese Alkohol-Kontrolle. Deshalb gilt es folgendes zu beachten:

Die Kombination Beruhigungs-/Schlafmittel und Alkohol führt nicht nur zu einer Summation, sondern sogar zu einer Potenzierung, d. h. die Wirkung vervielfacht sich. Dies betrifft nicht nur den Wirkeffekt, sondern auch die unerwünschten Begleiterscheinungen. So kann sich - insbesondere bei lang wirkenden Benzodiazepinen - schon ein "lediglich dezenter abendlicher Alkoholgenuß" sogar auf den folgenden Tag, wenn nicht die kommenden Tage hinderlich auswirken: unfrisch, müde, matt, gedämpft, schwunglos, ggf. initiativelos, merk- und konzentrationsbeeinträchtigt, vielleicht sogar stimmungslabil usw.

Auf diese Weise wird deutlich, daß selbst als harmlos empfundene Konsummuster ("ein Gläschen am Abend") ungeahnte Beeinträchtigungen provozieren können, die man bisher anderen Ursachen anlastete (Streß, Wetter, "ferienreif" usw.).

Bei den Schlafmitteln wird - wahrscheinlich öfter als vermutet, bewußt oder unbewußt, manchmal aber sogar gezielt - das Alkoholverbot regelrecht umgangen. Von der Kombination "Schlummertrunk" und Schlafmittel erhofft man sich eine besonders effektive Wirkung. Dabei ist in diesem Falle die Selbsttäuschung komplett:

Weder der Alkohol noch jegliches, derzeit auf dem Markt verfügbare Schlafmittel garantieren einen natürlichen Schlaf. Stets handelt es sich um einen Eingriff in den physiologischen Schlafablauf. Im Grunde zieht man sich durch einen solchen "amerikanischen Rausch", wie diese Kombination früher genannt wurde, nur eine zwar schnell einsetzende und traum-aktive, aber unnatürliche und belastende "Miniatur-Narkose" zu. Sie muß im weiteren Verlauf durch einen flachen und unruhigen Schlaf bezahlt werden, von dem drohenden "hang over" am nächsten Morgen ganz zu schweigen.

Neben diesen eher harmlosen, wenngleich "ungesunden" Beweggründen gibt es aber auch noch andere, ernstzunehmende Motive einer Kombination Alkohol/Beruhigungs- und/oder Schlafmittel. Im einzelnen:

Suchtpraktiken

Patienten mit meist fortgeschrittenem Suchtverhalten, seien es Alkoholkranke oder Medikamentenabhängige, auf jeden Fall aber Polytoxikomane (Mehrfachabhängige), pflegen Alkohol mit Beruhigungs-, Schlaf- und bestimmten Schmerzmitteln sowie anderen Substanzen gezielt zu mischen, um die teuren oder schwerer zu erlangenden Komponenten dieses Mehrfach-Abusus (meist die Medikamente) zu reduzieren bzw. einzusparen. Dieser "amerikanische Rausch" pflegt vor allem Bestandteil des sogenannten "Vier-Wände-Trinkens" zu sein. Das ist der Mißbrauch zu Hause und damit ohne jede gesellschaftliche Kontrolle, wie er u.U. in gewisser Hinsicht auf Parties oder auch in Gaststätten, Diskotheken, Bars usw. gegeben ist. Und dies offenbar im wachsenden Ausmaß beim weiblichen Geschlecht, das sich aus gesellschaftlichen Gründen einen "öffentlichen Rausch" weitaus weniger leisten kann als ein Mann, bei dem derlei u. U. toleriert wird, insbesondere angesichts freudiger Ereignisse.

Selbsttötungsgefahr

In suizidaler Hinsicht wird die Kombination Medikamenten-Vergiftung und Alkoholisierung immer häufiger registriert, teils zur Potenzierung der erhofften tödlichen Wirkung, teils als vorangegangener Hemmungslöser, um mehr Mut für härtere Selbsttötungs-Maßnahmen zu bekommen.

Kriminelle Absichten

In krimineller Hinsicht waren und sind in "dunklen Kreisen" sogenannte "k. o.-Tropfen" möglich. Meist handelt es sich um geschmacksindifferente Kombinationen hochprozentiger Alkoholika und Beruhigungs- bzw. Schlafmittel (z. B. Benzodiazepine, früher Barbiturate) in klarer, flüssiger und gut löslicher Form. Zunehmend auch Cocktail-Getränke mit Orangensaft. Nach Einnahme derartiger Mixturen verfallen die Opfer in einen geradezu narkoseähnlichen Schlaf und können dann problemlos ausgeraubt, vergewaltigt oder gar verschleppt werden.

Schlußfolgerung

Wer Beruhigungsmittel am Tage und/oder Schlafmittel für die Nacht einnehmen muß, sollte auf Alkohol verzichten. Auf jeden Fall sollte er die Kombination vermeiden, d. h. wenn Alkohol, dann keine Medikamente. Und wer sich dazu nicht in der Lage sieht, sollte wenigstens um die Folgen wissen und sie nicht anderen "Belastungen" anhängen. Und wer diese Kombination gezielt einsetzt (z. B. "Nacht-Cocktail"), sollte sich darüber im klaren sein, daß damit kein physiologischer, d. h. natürlicher Schlaf erzwungen werden kann - im Gegenteil: das ist eine kombinierte Medikamenten-Alkohol-Narkose mit allen Konsequenzen.

Teilnahme am Verkehr

Die aktive Teilnahme am Verkehr mittels Pkw, Motorrad, Moped, Mofa und Fahrrad unter Psychopharmaka stellt seit jeher ein vieldiskutiertes Thema dar. Dabei will der Arzt erst einmal mit der Fahrerlaubnis zurückhaltend bleiben, während der Patient besorgt oder entrüstet darauf verweist, daß sich ohne diese Möglichkeiten sein Aktionsradius unvertretbar einengt (vor allem Berufsverkehr). Daß dabei auch der Führerschein als "Statussymbol" bzw. die Mobilität als Ausweis von Gesundheit und Selbstbestimmungsrecht, kurz: auch zur psychischen Stabilisierung dient, ist zwar allen klar, wird aber selten ausgesprochen.

Das Problem der Teilnahme am Verkehr belastet besonders jene Patienten, die aufgrund ihrer Krankheit Antidepressiva, vor allem aber Neuroleptika nehmen müssen. Für sie hat die motorisierte Unabhängigkeit in der Regel auch einen höheren psychologischen Stellenwert. Dennoch pflegt hier der behandelnde (und damit letztlich verantwortliche) Arzt in der Regel, vor allem aber zu Beginn der Medikation restriktiver durchzugreifen. Erst im Laufe der Therapie ergibt sich letztlich ein Kompromiß zwischen Fahrsicherheit und dem verständlichen Wunsch nach der gewohnten Mobilität. Denn in der Tat: Dämpfende Antidepressiva und Neuroleptika können nicht nur beeinträchtigen (z. B. Reaktionsgeschwindigkeit), sondern im Laufe der Behandlung durch ihre seelisch-körperliche Stabilisierung und damit verbesserte Belastbarkeit der Gemütslage die Fahrtüchtigkeit wieder erhöhen. Doch am Anfang steht ein - für den Patienten meist unerfreuliches - Fahrverbot, zumindest aber der Hinweis auf eine mögliche Gefährdung von sich und anderen.

Noch schwerer durchsetzbar sind entsprechende Vorschläge und Mahnungen beim Gebrauch von Beruhigungs- und Schlafmitteln. Denn diese Patienten sind im allgemeinen weit weniger seelisch-körperlich eingeschränkt als jene, die Antidepressiva und Neuroleptika benötigen. Dennoch müssen auch hier die bekannten Regeln eingehalten werden, um nicht ggf. sich selber und andere in Schwierigkeiten zu bringen - den behandelnden Arzt eingeschlossen. Denn - und das ist in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt - die Benzodiazepine haben einen hohen Gefährdungsindex, was Verkehrs- und Arbeitssicherheit anbelangt. Er ist zwar niedriger als bei Anticholinergika, Barbituraten und opiathaltigen Schmerzmitteln, doch höher als bei Neuroleptika und Antidepressiva. Deshalb gilt es im einzelnen zu respektieren:

1. Die Fähigkeit zur Teilnahme am Verkehr bzw. gar eine Verkehrsgefährdung ist hauptsächlich von der Dosierung abhängig. Sehr geringe Dosen müssen die Fahrtüchtigkeit nicht wesentlich beeinflussen, mittlere oder gar höhere Dosen führen jedoch zu eindeutigen Leistungsdefiziten. Zu achten ist nicht zuletzt auf die Halbwertszeiten, um nicht dem Trugschluß zu erliegen, "an diesem Tage nichts genommen zu haben", obgleich man noch unter der Medikamentenwirkung von gestern steht. Denn die - meist nicht realisierte - Langzeitwirkung einiger Substanzen kann sich ja über viele Stunden bis einige Tage hinziehen.

2. Seelisch und/oder körperlich gesunde Personen entwickeln unter Psychopharmaka im allgemeinen sowie Beruhigungs- und Schlafmitteln im besonderen weniger verkehrsrelevante Einbußen als Menschen mit ernsteren Störungen. Aber nur letztere sind auf diese Mittel angewiesen, weshalb sich die beeinträchtigte Gesundheit mit der Medikamentenwirkung negativ potenzieren kann. Wer also die Wirkung von Schlaf- und Beruhigungsmitteln aus "halbwegs gesunden Tagen" einzuschätzen gelernt hat, muß seine Reaktion noch lange nicht im seelisch-körperlich beeinträchtigten Zustand kennen (psychovegetative Labilität, Streßintoleranz, verstärkte Empfindlichkeit auf Umwelteinflüsse, z. B. Wetterumschlag usw.).

Deshalb empfehlen die Experten vor allem Vorsicht zu Beginn einer Therapie. Ferner Beruhigungsmittel so gering wie möglich dosieren oder am Abend einzunehmen, damit sich bei mittellang bis lang wirkenden Präparaten die unerwünschten Begleiterscheinungen am nächsten Tag etwas verflüchtigen. Vorsicht bei Schlafmitteln mit langer Halbwertszeit. Und wer Alkohol und Beruhigungs- oder Schlafmittel zusammen nimmt, fordert das Schicksal gleichsam heraus.

SUCHTGEFAHR

Die Gefahr einer Abhängigkeit durch Beruhigungs- und Schlafmittel vom Typ der Benzodiazepine ist zwar schon mehrere Jahrzehnte bekannt, wurde aber erst in den letzten Jahren in ihrer komplexen Vielfalt deutlich. Die wichtigste Erkenntnis der letzten Jahre aber ist ein - in der Medizin bisher wohl einmaliger - Sonderstatus der benzodiazepinhaltigen Beruhigungs- und Schlafmittel: die sogenannte Niedrig-Dosis-Abhängigkeit (s. u.). Denn bis dahin galt die alte Regel: Bei längerdauernder Zufuhr eines süchtig machenden Stoffes gewöhnt sich der Mensch (bzw. bestimmte dafür zuständige Nervenstrukturen seines Organismus) an diese Substanz. Jetzt reagiert er nur noch mit der gewünschten Wirkung (Ruhe, Entspannung, Glücksgefühl, Angstlösung, bei anderen Stoffen mit Schmerzlinderung usw.), wenn die Dosis stetig und ausreichend erhöht wird. Wenn nicht, gerät er in unangenehme Entzugserscheinungen. So etwas nennt man eine Toleranz-Entwicklung (Dosissteigerung wird zur Notwendigkeit, um den gleichen Wirkeffekt zu erzielen). Sie gilt als untrügliches Zeichen für die drohende bzw. inzwischen reale Abhängigkeit von diesem Stoff.

Toleranzentwicklung und damit notwendige Dosissteigerung waren also bewährte Warnzeichen, die dem Patienten, auf jeden Fall aber seinem Arzt signalisierten: Vorsicht, Suchtgefahr! Jetzt mußte eine neue Lösung gefunden werden (Umstellung auf ein weniger risikoreiches Medikament, kompensatorisch verstärkte Psycho- und Soziotherapie usw.) - oder der Betreffende wird medikamentenabhängig. (Gleiches gilt natürlich auch für andere süchtig machende Stoffe wie Nikotin, Rauschdrogen, Alkohol, ja sogar für nicht-stoffgebundene Suchtformen wie die Glückspielsucht usw.)

Bei den Benzodiazepinen aber ist dies gelegentlich anders, und das wurde eigentlich erst in den letzten Jahren so richtig deutlich und als Warnung allgemein verbreitet. Diese Tranquilizer und Schlafmittel können nämlich auch abhängig machen, ohne daß die Dosis nach und nach erhöht werden muß. Die Betroffenen bleiben bei ihrer meist durchaus niedrigen Dosierung und niemand ahnt, daß die Medikamenten-Abhängigkeit trotz allem schon eingetreten ist. Dies nennt man deshalb auch eine Niedrig-Dosis-Abhängigkeit oder - wenn man die niedrige Dosis als Normaldosis betrachtet - eine "Normal-Dosis-Abhängigkeit".

Unter dieser Form der Abhängigkeit leidet also eine nicht geringe Zahl von Benzodiazepin-Konsumenten, die bisher meinten: "Ohne Dosiserhöhung keine Abhängigkeit" - und deshalb seien sie auch nicht süchtig.

Sollte es aber Betroffene geben, die diese Erkenntnis erstaunt und ungläubig registrieren oder schlichtweg ablehnen, dann läßt sich dieser Zweifel schnell und sicher ausräumen: Man muß nur konsequent und über längere Zeit die Einnahme des entsprechenden Arzneimittels stoppen - und dann sein Befinden aufmerksam beobachten (am besten unterstützt durch die objektiven Beurteilungskriterien seiner näheren, ggf. auch weiteren Umgebung). Dann wird sich rasch anhand der nun einsetzenden Entzugserscheinungen zeigen, ob und in welchem Ausmaß der Betreffende bereits abhängig war. Meist stellen sich diese Abstinenz-Symptome innerhalb der ersten 24 bis 48 Stunden ein. Sie können aber auch - je nach eingenommener Substanz bzw. deren Stoffwechsel-Zwischenprodukte und deren mehr oder weniger langsamen Ausscheidung - erst nach 3 bis 6 Tagen oder mehr in Erscheinung treten. Im Einzelfall irritieren die Entzugserscheinungen sogar erst nach Wochen.

Faßt man die inzwischen gesammelten Erkenntnisse zur Suchtgefahr dieser Stoffklasse noch einmal zusammen, dann gilt folgendes:

Beruhigungs- und Schlafmittel vom Typ der Benzodiazepine können abhängig machen, und zwar:

- bereits nach relativ kurzer Einnahmezeit (d. h. nach wenigen Wochen),
- in jeder Anwendungsform (Tabletten, Bruchrilletabletten, Dragees, Zäpfchen, Tropfen, Injektionsflüssigkeit für intramuskuläre oder intravenöse Gabe),
- selbst in gering erscheinender Dosierung (sogenannte Niedrig-Dosis-Abhängigkeit),
- auch in gleichbleibender (niedriger) Dosierung ohne Dosiserhöhung im Verlauf der Einnahmezeit,
- auch in sogenannten Kombinationspräparaten als Beimischung zu Antidepressiva, Schmerz-, herzstützenden und krampflösenden Mitteln u. a.

Besonders gefährdet sind Menschen mit neurotischen, psychosomatischen und Schlafstörungen, mit chronischer Angstsymptomatik und einer entsprechenden Sucht-Vorgeschichte. Auch auf nahe Verwandte achten (= Disposition? Nachahmungseffekt?).

Die Entzugs-Symptome

Mit welchem Beschwerdebild muß man nun rechnen? Die Entzugssymptome nach zu raschem Ausschleichen oder gar abruptem Absetzen von Benzodiazepin - Tranquilizern und -Schlafmitteln gehören durch ihr verwirrendes Beschwerdebild zu den eindrucksvollsten Phänomenen einer Abhängigkeitsentwicklung. Manchmal sind sie nur unterschwellig und erträglich und irritieren den Patienten lediglich durch ihre Vielfalt, ja Sonderlichkeit. Zumeist sind sie lästig bis unangenehm und beeinträchtigen zumindest Stimmung und damit Leistungsfähigkeit und Lebensqualität. Bisweilen aber können sie sogar quälend bis gefährlich werden.

Die häufigsten Entzugssymptome sind Schweißausbrüche, Zittern, Kopfschmerzen, Herzklopfen, innere Unruhe, Verstimmungen, diffuse Ängste, Merk- und Konzentrationsabfall sowie Schlafstörungen mit belastenden Träumen.

Es gibt jedoch noch weitere, mehr oder weniger charakteristische Abstinenzsymptome. Dazu zählen:

Psychisch/psychosozial: depressiv oder mißgestimmt-reizbar; distanzlos bis "unverfroren"; lustlos, passiv, schwach, kraftlos, leicht erschöpfbar; innerlich unruhig, nervös, fahrig, getrieben, gespannt; unzufrieden, vorwurfsvoll, leicht verletzlich, überempfindlich, mürrisch, aufbrausend, aggressiv, "feindlich"; Merk- und Konzentrationsstörungen; scheinbar unmotivierter Wechsel zwischen inhaltslosem Glücksgefühl und depressiv-weinerlich-ängstlich-zurückgezogen; affektlabil bis ausgeprägt rührselig; Angstanfälle (sogenannter "Angst-Rückschlag", nachdem die Ängste zuvor nur chemisch unterdrückt und nicht psychotherapeutisch aufgearbeitet wurden) sowie Panikattacken; eigentümliche Körperwahrnehmungen und ungewohnte Seh- und Hörreize (s. u.); sogenannte Derealisations-Phänomene ("alles so weit weg, sonderbar, komisch") und Depersonalisations-Erscheinungen ("ich bin nicht mehr ich"); eigentümliche Körperwahrnehmungen (s. u.) sowie Hör-,Seh-, Gefühls-, Geschmacks- und Geruchs-Trugwahrnehmungen (körperliche Störungen, die aber seelischer Natur sind); Desorientierung, und zwar örtlich, zeitlich sowie zur eigenen Person; phobische (zwanghafte) Ängste z. B. Herzphobie: Angst vor dem Herzstillstand; weitere psychosomatisch interpretierbare Zustände (seelische Störungen, die sich körperlich äußern); Suizidphantasien oder gar Selbsttötungsimpulse; in schweren Fällen ausgeprägte wahnhafte Psychosen (Geisteskrankheit) sowie eine delirante Symptomatik (ähnlich dem Alkoholentzug, bei dem aber häufiger Veränderungen der Sinneswahrnehmungen auftreten).

Körperliche Entzugssymptome: Zittern, Schwitzen; Herzrasen, "Herzschlag bis zum Hals"; Blutdruckänderungen; Schwindel; Kopfschmerzen; allgemeines Schwächegefühl; Gehörsüberempfindlichkeit, manchmal verbunden mit einem "Dröhnen im Kopf"; Lichtscheu; Metallgeschmack im Mund; Berührungs- und Schmerzüberempfindlichkeit; "Liftgefühl", "wie auf Watte"; Appetitlosigkeit, Übelkeit, Erbrechen; Steigerung der Eigenreflexe; Gefahr von Krampfanfällen; vor allem aber die bereits erwähnten Schlafstörungen mit unangenehmen bis belastenden Träumen (sogenannte "Rückschlag-Schlafstörungen", nachdem der Schlaf zuvor zu lange nur chemisch erzwungen worden war).

Zeichen fortschreitender Abhängigkeit

Die überwiegende Mehrzahl der Betroffenen ist nur mit wenigen der aufgeführten Entzugs-Symptome belastet und kommt aus ihrer Suchtgefährdung relativ glimpflich wieder heraus - auch wenn diese Zeit sehr hart auszufallen pflegt. Doch es gibt auch Menschen, die sich in eine fortschreitende Abhängigkeit verstricken, ja manchmal sogar zu Mehrfach-Abhängigen (Polytoxikomanen) werden.

Eine solche Mehrfach-Abhängigkeit hängt natürlich von vielen Faktoren ab: Persönlichkeitsstruktur, Disposition, zwischenmenschliche, insbesondere familiäre, aber auch berufliche Belastungen u. a. Sie ist bei Rauschgiftsüchtigen schneller erreicht. Doch auch bei längerfristiger "reiner" Medikamentensucht ist sie zuletzt nicht mehr auszuschließen: Beruhigungsmittel, Schlafmittel, Schmerzmittel, nicht selten ein zusätzlicher Alkohol- und Nikotin-Mißbrauch.

Auf was muß man achten, wenn sich die schwerwiegende Entwicklung einer Mehrfachabhängigkeit abzuzeichnen droht? Nachfolgend einige Hinweise in Stichworten, die natürlich nur in seltenen Extremfällen zutreffen müssen, vielleicht aber in der einen oder anderen Situation die Augen öffnen helfen:

- Psychosoziale Aspekte: auffallend häufige Verschreibungswünsche (sogenannte "Wunschverschreibungen") beim behandelnden Arzt bzw. bei mehreren Ärzten (Parallel-Konsultationen, in den USA auch als "doctor-shopping", neuerdings auch als "doctor-hopping" bezeichnet). Inzwischen offenkundige selbständige Dosiserhöhung, auch bei den Benzodiazepinen, bei denen dies ja nicht obligat ist (s. o.). Versuch, auch an benzodiazepinhaltige Kombinationspräparate heranzukommen (Benzodiazepine in Kombination mit Spasmolytika, Herz-Kreislaufmitteln, früher auch Sexualhormone, Schmerzmittel u. a.). Einsatz von Tranquilizern und Schlafmitteln, um "frischer" zu werden, deshalb Benzodiazepin-Schlafmittel auch tagsüber. Patient fordert entsprechende Präparate immer ungestümer, auch ohne medizinische Indikation. Schließlich vermehrt Jammern, Klagen, zuletzt Drohungen verschiedenster Art, von der Verleumdung über "Meldung bei den zuständigen Stellen" bis zu Gewalt oder Suizidversuch für den Fall der Verweigerung. Dazu Anlage von Tablettendepots, ständiges Beisichführen von Medikamenten, Rezept in Reserve usw. Patient ist auf entsprechende Präparate fixiert, "braucht die Tabletten", glaubt, ohne sie nicht leben zu können, hält eine Abhängigkeit selber für nicht mehr ausgeschlossen.

Schließlich zunehmende Gleichgültigkeit, Kritikverlust, Nachlassen tiefgehender gefühlsmäßiger Reaktionen bis hin zur gemütsmäßigen Nivellierung ("wurschtig"), Konfliktvermeidung, Realitätsflucht, Tiefgangverlust, ernstere mißgestimmt-depressive Zustände; Vernachlässigung der persönlichen Hygiene und Pflichten; persönlichkeitsfremde Unordnung in der Wohnung oder am Arbeitsplatz; vermehrt unerklärliche Erinnerungslücken ohne Alkoholmissbrauch ("trockene Trunkenheit").

Wichtig: Es handelt sich um eine Wesensänderung in letzter, zumindest überschaubarer Zeit. Natürlich gibt es auch Menschen, die eine Reihe solcher Wesenszüge schon aufgewiesen haben, solange man sie kennt. Das ist dann eher eine Folge der entsprechenden Persönlichkeitsstruktur. Wer aber nach und nach oder gar innerhalb mittlerer Frist ganz anders wird, als er früher einmal war, um den sollte man sich ggf. nachhaltig kümmern, da gilt es abzuklären, was dahinterstecken könnte.

Das Gleiche gilt im wesentlichen auch für die folgenden Veränderungen:

- Körperliche Aspekte: gehäuft Stürze, Frakturen (Knochenbrüche), Verletzungen sowie Blutergüsse verschiedenen Alters (und damit Farbe) an Becken- und Schultergürtel sowie Armen und Schienbeinen. Brandwunden bei Rauchern (nachlassende Vorsicht bei der vergiftungsähnlichen Medikamenten-Einnahme). Einnässen und/oder Einkoten ohne erklärbare Ursachen.

- Unfallgefährdung: vor allem Beeinträchtigung der Reaktionsfähigkeit (seelisch-geistig-körperliche Verlangsamung in der Regel um so folgenschwerer, je weniger sie vom Betroffenen wahrgenommen wird). Deshalb gehäuft Fahr-, Betriebs- und Hausunfälle (Treppen, Leitern) mit entsprechenden Folgen.Wichtig: Hausunfälle sind viel häufiger, insbesondere mit weniger ernsten Folgen, als Fahr- und Betriebs-Unfälle. Vor allem können Hausunfälle besser vertuscht werden. Sollten sie sich jedoch häufen, muss man sich zumindest entsprechende Gedanken machen.

- Arbeitsplatz: Nachlassen der Leistung (s. o.), häufiger Wechsel und Arbeitsplatzverlust, ggf. beruflicher Abstieg.

- Medikamentenbeschaffung: Vortäuschung (Simulierung) von Krankheitszeichen, Beschaffung durch Dritte, Rezeptfälschung bzw. -diebstahl, Überredung des Apothekenpersonals zur Abgabe ohne Verschreibung, Schwarzmarkt, Medikamentendiebstahl, Apothekeneinbrüche u. a.

- Drohende Extremfolgen im Endzustand: Verlust der gesellschaftlichen Stellung, Trennung, Scheidung, Arbeitsplatzverlust, Isolation, sozialer Abstieg. Zunehmende suizidale Impulse und entsprechende Versuche (oft Kombination von Alkohol/Tabletten). - Als sekundäre Körperschäden vermehrt Frakturen, Verbrennungen, Unfälle, Verletzungen (z. B. durch vergiftungsbedingte epileptische Anfälle); hohe allgemeine Sterblichkeitsziffer.

Entzugsbehandlung von Benzodiazepinen

Die meisten Patienten, die Beruhigungs- und Schlafmittel vom Typ der Benzodiazepine zu hoch dosiert und zu lange eingenommen haben, kommen trotzdem durch konsequente Dosisreduktion ("Ausschleichen"), einige sogar durch einen radikalen Einnahmestopp aus der drohenden oder gar eingetretenenen Abhängigkeit wieder heraus. In nicht wenigen Fällen aber bleibt der Patient daran hängen. Dann entwickelt sich ein Teufelskreis, der nicht zuletzt das Arzt-Patient-Verhältnis mit gegenseitigen Schuldzuweisungen belastet. Oft lässt sich der Patient in seiner Not dann durch andere Ärzte, die Benzodiazepin-Tranquilizer oder - Schlaf-mittel weiter verordnen. Manchmal werden diese Ärzte auch über die Vorgeschichte nicht informiert und damit in eine solche unglückliche Entwicklung regelrecht hineingezogen.

Letztlich wissen aber alle Beteiligten, dass dies keine Dauerlösung der seelischen und psychosozialen Probleme ist, nur neue Belastungen schafft und seelisch-körperlich sowie psychosozial verhängnisvolle Konsequenzen nach sich ziehen kann. Hier wäre die beste Lösung ein stationärer Entzug in einer Fachklinik. Doch dazu kommt es aus den unterschiedlichsten Gründen nur selten, einschließlich nachvollziehbarer Ängste und überholter Vorurteile. Deshalb bleibt meist nur der ambulante Entziehungsversuch. Einzelheiten siehe die weiterführende Spezialliteratur (s. Literaturverzeichnis). Nachfolgend nur einige Hinweise in Stichworten:

Benzodiazepine dürfen ambulant nicht abrupt abgesetzt werden, auch wenn es immer wieder praktiziert wird und mitunter sogar mehr oder weniger leidlich vorübergeht. Erträglicher ist das langsame Ausschleichen mit psychotherapeutischer und in der Regel medikamentöser Unterstützung. Die Basis ist eine vorbehaltlose Aufklärung über die seelischen, psychosozialen und vor allem körperlichen Entzugserscheinungen - aber auch über die Konsequenzen beim Scheitern dieses Entzugs und dem dann drohenden Langzeitkonsum mit immer folgenschwererer Abhängigkeit.
Die Angehörigen sollten zur Mitarbeit motiviert und ebenfalls aufgeklärt werden, zumal sich die Folgen einer Entziehungsbehandlung am nachhaltigsten im engeren Familienkreis äußern. Auch kann man manche Verwandte durchaus zu hilfreichen Mit-Therapeuten anlernen.

Wichtig ist ein gemeinsam erstellter schriftlicher (!) Therapieplan mit ständig aktualisierten Dosis- und Zeitangaben. Rein mündliche Abmachungen kranken grundsätzlich an unterschiedlichen Interpretationen durch Arzt und Patient, oder direkter ausgedrückt: Zermürbt durch die z.T. "entnervenden" Entzugserscheinungen versuchen nicht wenige Betroffene den Therapieplan in ihrer Not sehr eigenwillig zu interpretieren oder gar zu unterlaufen bzw. heimlich abzubrechen.

Da man Tabletten, Dragees, Kapseln und selbst Bruchrillentabletten für eine Dosisreduktion nicht optimal verkleinern kann, sollte man auf eine flüssige Darreichungsform umsetzen. Das ist bei den Benzodiazepinen kein Problem, da gibt es inzwischen eine ganze Reihe von Handelspräparaten in flüssiger Form. Danach wird die Dosis langsam reduziert, zuerst unterstützt durch psychotherpeutische und psychagogische Maßnahmen (eine Mischung aus Psychotherapie und Pädagogik) durch den Arzt und durch aufgeklärte und kooperative Angehörige (stützende Mitbehandlung). Später, wenn sich die Entzugserscheinungen immer lästiger bis quälender bemerkbar machen, durch die zusätzliche Gabe eines niederpotenten Neuroleptikums oder sedierenden Antidepressivums - je nach Beschwerdebild. Dabei werden die - nicht süchtig machenden - Neuroleptika oder Antidepressiva in jenem Maße aufdosiert, wie das Benzodiazepin-Präparat ausgeschlichen werden muss. Am Schluss bleibt eine gewisse Erhaltungsdosis des Neuroleptikums/Antidepressivums über eine durchaus mittelfristige bis längere Zeit bestehen, um die Stabilisierung des Patienten zu gewährleisten und eine Rückfallgefahr soweit als möglich einzugrenzen.

Auch sollen während dieser Zeit zusätzliche Belastungen vermieden und vor allem keine weiteren Entzugswünsche ins Auge gefasst werden (z.B. gleich noch Rauchen, Alkohol oder Übergewicht reduzieren). Dafür empfehlen sich zusätzlich ballast- und vitaminreiche Kost, ggf. physikalische Behandlungsmaßnahmen (Bürstenmassagen, Wechselduschen, Sauna) sowie vor allem tägliche körperliche Aktivität: "Gesundmarsch", Fahrradfahren, Schwimmen, Langlauf, Gymnastik, Turnen, Tanz, Gartenarbeit usw. - allerdings ohne schädlichen Ehrgeiz.

Schließlich kann auch das Antidepressivum oder Neuroleptikum langsam ausgeschlichen werden. Aber Vorsicht: Auch hier keine abrupten Absetzversuche dieser Präparate, die zwar keine Entzugssymptome machen, weil sie nicht süchtig werden lassen, wohl aber vergleichbar lästige Absatzbeschwerden auslösen können, wenn man zu rasch oder gar übergangslos aufhört.

Sobald man einigermaßen stabil und wieder konzentriert und lernfähig ist, sollte man auch nicht-medikamentöse Entspannungsverfahren lernen, z.B. autogenes Training oder Yoga. Wenn man es schon vorher gelernt hat, kann es natürlich zur Unterstützung der unangenehmen Entzugsphasesehr hilfreich sein.

Werden später wieder entspannende, angstlösende und schlafanstoßende Medikamente in entsprechenden Situationen erforderlich, dann auf keinen Fall erneut Beruhigungs- oder Schlafmittel vom Typ der Benzodiazepine einsetzen, sondern den gleichen Effekt mit niederpotenten Neuroleptika oder ggf. Antidepressiva zu erreichen versuchen. Oder - falls wirkungsmäßig ausreichend - mit psychotropen Pflanzenheilmitteln mit Wirkung auf das Seelenleben, z.B. Baldrian, Melisse, Hopfen, Passionsblume, Kava-Wurzel-Stock, ggf. Johanniskraut usw. Diese müssen allerdings ausreichend hochdosiert und lange genug eingenommen werden. Auch muss man bei Johanniskraut und Kava-Kava einen verzögerten Wirkungseintritt von ein bis drei Wochen berücksichtigen. Vor allem aber muss man eines akzeptieren:

Wenn einmal ein synthetisches ("chemisches") Psychopharmakon, also Beruhigungsmittel, Neuroleptikum oder Antidepressivum eingenommen wurde, vor allem über längere Zeit, pflegt ein ähnlich wirkendes Pflanzenheilmittel danach nicht mehr den erhofften Erfolg zu haben. Dagegen ist der umgekehrte Einsatz - zuerst Pflanzenheilmittel, dann notfalls synthetische Psychopharmaka - durchaus sinnvoll, wenn das Pflanzenheilmittel nicht (mehr) ausreicht.

Zum Abschluss noch eine Tabelle über die wichtigsten Empfehlungen für den Einsatz von Benzodiazepinen durch einen von der Bundesregierung eingesetzten Sachverständigen-Ausschuss, der folgendes zusammenfasst:

Tabelle: Empfehlungen für den Einsatz von Beruhigungs- und Schlafmitteln für den Patienten

1. Benzodiazepine sind allein zur Behandlung krankhafter Zustände geschaffen worden und dürfen nur auf ärztliche Anweisung eingenommen werden.

2. Spätestens nach 4-wöchiger Einnahme soll der Arzt entscheiden, ob eine Behandlung fortgeführt werden muß. Eine ununterbrochene, längerfristige Einnahme sollte vermieden werden, da sie zur Abhängigkeit führen kann. Bei einer Einnahme ohne ärztliche Anweisung verringert sich die Chance mit diesem Arzneimittel zu helfen.

3. Erhöhen Sie auf keinen Fall die vom Arzt vorgeschriebene Dosis, auch dann nicht, wenn die Wirkung nachläßt. Durch eigenmächtige Dosissteigerung wird die gezielte Behandlung erschwert.

4. Bei Absetzen nach längerem Gebrauch können - oft mit Verzögerung von einigen Tagen - Unruhe, Angstzustände und Schlaflosigkeit auftreten. Diese Absetzerscheinungen verschwinden im allgemeinen nach 2 bis 3 Wochen.

5. Wenn Sie derzeit oder früher einmal abhängig von Alkohol, Arzneimitteln oder Drogen sind bzw. waren, dürfen Sie Benzodiazepine nicht einnehmen, seltene, nur vom Arzt zu beurteilende Situationen ausgenommen. Machen Sie Ihren Arzt auf diesen Umstand aufmerksam.

6. Nehmen Sie benzodiazepin-enthaltende Arzneimittel nie ein, weil sie anderen "so gut geholfen haben" und geben Sie diese Arzneimittel nie an andere weiter

Schlußfolgerung

Es wird wohl nur wenige Patienten geben, die sich für einen plötzlich unumgänglichen Entzug von Beruhigungs- und Schlafmitteln in stationäre Fachbehandlung begeben, obgleich das für einige sicher der bessere Weg wäre. Wer jedoch den ambulanten Entzug mit Haus- und/oder Nervenarzt bevorzugt, soll dies auch konsequent tun. Er wird sehen, daß der Erfolg von seinem Einsatz abhängt. In vielen Fällen geht es einfacher als befürchtet. Der Mehrzahl fällt es nicht leicht, aber es ist machbar. Manchmal wird es zum schweren Gang, der sich gleichwohl lohnt. Der Erfolg ist nicht nur der chemische Entzug, der Erfolg ist auch ein psychologischer Sieg über sich selber und seine Schwächen - und das kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Manchmal wird gefragt: Soll man denn bei jedem und grundsätzlich entziehen? Der Hintergedanke ist natürlich eindeutig: Vielleicht kommt man um diese Mühsal herum - aus welchem Grund auch immer. Einen solchen Entschluß trifft der Arzt in Zusammenarbeit mit dem Betroffenen und ggf. seinen Angehörigen, die ja das ganze mit durchstehen müssen. Er entscheidet, ob der Patient zu alt, körperlich zu hinfällig, seelisch zu instabil usw. ist. Dafür gibt es bestimmte Empfehlungen, die er für seinen Patienten individuell durchdenkt.

Es soll - zum Abschluß - auch nicht verschwiegen werden, daß es inzwischen viele ältere Männer und vor allem Frauen gibt, die ihre Beruhigungs- und Schlafmittel schon seit vielen Jahren, manchmal seit mehreren Jahrzehnten einnehmen - mit überwiegend gleichbleibender Dosis. Sie sind trotzdem abhängig = süchtig, auch wenn es sich um die ansonsten ungewöhnliche Niedrig-Dosis-Abhängigkeit handelt (s.o.). In solchen Fällen pflegen die Ärzte manchmal von einem Entzug Abstand zu nehmen. Doch das ist kein Freischein, im Gegenteil: Nicht wenige dieser Patienten sind letztlich so abgebaut, daß der Entzug das größere Risiko wäre. So weit aber sollte man es nicht kommen lassen.

Die Abhängigkeit von Medikamenten im allgemeinen und Benzodiazepinen im besonderen kann zu einer schweren, ja lebens-bestimmenden Bürde werden, die am Ende mehr Kraft kostet als der ursprüngliche Grund der Einnahme. Doch dies muß nicht sein. Denn während man sich früher darauf berufen konnte, die Folgen in ihrem vollen Ausmaß nicht gekannt zu haben, zumindest in der Allgemeinheit, ist dies heute nicht mehr möglich. Man weiß, was diese Beruhigungs- und Schlafmittel zu leisten vermögen aber man kennt auch ihren Preis.

AUSBLICK

Ob Tranquilizer und Schlafmittel vom Typ der Benzodiazepine zu den sogenannten unverzichtbaren Arzneimitteln gehören, ist umstritten. Doch ihre beruhigende, entspannende und schlaffördernde Wirkung hat Millionen Menschen in ihrer Not geholfen. Die Angstlösung ist wahrscheinlich unübertroffen, wenn man nur die medikamentösen Therapiemöglichkeiten berücksichtigt. Und auch der Muskelverkrampfungen lösende und antiepileptische Effekt ist in vielen Fällen heilsam. Ob man den Satz: "Es gibt keine schlechten Arzneimittel, es gibt nur einen falschen Gebrauch" so direkt akzeptieren will, ist Ansichtssache. Die Benzodiazepine haben auf jeden Fall eine vielschichtige Aufgabe übernommen und zumeist auf eine Weise gelöst, die zu Anerkennung, Respekt und Dankbarkeit Anlaß gibt. Wer das in Frage stellt, wird der Realität nicht gerecht.

Freilich haben sie eine Reihe von unerwünschten Begleiterscheinungen und können abhängig machen. Das teilen sie zwar mit anderen Wirkstoffen, doch muß man auch die Häufigkeit ihres (derzeitigen) Gebrauchs in Rechnung stellen - noch immer. Und hier gehören sie eben zur Gruppe der meistverkauften Pharmaka generell und rangieren bei den Psychopharmaka mit Abstand an der Spitze. Wer aber eine solche überragende Position einnimmt, wird auch mit anderen Maßstäben gemessen. Und das ist gut so, denn bei Suchtgefahr nimmt erfahrungsgemäß die Zahl der Mißbraucher und Abhängigen parallel zum allgemeinen Gebrauch zu. So gesehen haben wir es noch immer mit einer großen Zahl von Betroffenen zu tun, auch wenn exakte Daten nicht verfügbar und die Dunkelziffer der unerkannt Abhängigen nicht unerheblich ist.

Gleichwohl gehören Benzodiazepin-Präparate bei einer Reihe entsprechender Heilanzeige auch heute noch zu den Mitteln der ersten Wahl, wie die Ärzteschaft eine solche führende Therapie-Position nennt. Und dieser Erfolg kommt nicht von ungefähr. Er basiert auf dem Urteil von Millionen von Patienten aus aller Welt und wird durch zahlreiche wissenschaftliche Dokumentationen gestützt.

So gesehen kann man nur hoffen, daß Hersteller, Ärzteschaft und Patienten gemeinsam dafür Sorge tragen, daß diese Beruhigungs- und Schlafmittel nicht weiter in Mißkredit geraten. Denn sie nehmen eine hilfreiche Aufgabe wahr, auf die man in begründeten Fällen nicht verzichten kann - ihr gezielter, ärztlich kontrollierter und zeitlich begrenzter Einsatz vorausgesetzt.

Literatur

Inzwischen unüberschaubare Fülle wissenschaftlicher Publikationen und Fachbücher sowie allgemein verständlicher Beiträge und Sachbücher. Letztere allerdings nicht immer mit der wünschenswerten Objektivität.

Grundlage vorliegender Ausführungen sind die

Allgemein verständlichen Sachbücher:
Faust, V.: Psychopharmaka. Arzneimittel mit Wirkung auf das Seelenleben. Trias, Stuttgart 1994

Faust, V.: Medikament und Psyche. Neuroleptika-Antidepressiva-Beruhigungsmittel-Lithiumsalze. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 1995

Fachbücher:
Faust, V.: Suchtgefahren in unserer Zeit. Hippokrates, Stuttgart 1983

Faust, V. et al.: Der gestörte Schlaf und seine Behandlung. Schlaf - Schlafstörungen - nicht-medikamentöse Schlafhilfen-Schlafmittel. Universitätsverlag, Ulm, 1991

Faust, V., H. Baumhauer: Psychopharmaka. ecomed, Landsberg 1990

Faust, V., H. Baumhauer: Psychopharmaka. Lose-Blatt-Sammlung seit 1990. ecomed Landsberg 1999

Faust, V., H. Baumhauer: Psychopharmaka in Stichworten. ecomed, Landsberg 1992

Faust, V. (Hrsg.): Psychiatrie. G. Fischer-Verlag, Stuttgart-Jena-New York 1996

Unter Mitarbeit von Apothekerin Helga Baumhauer

Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise.
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