Start Psychiatrie heute Seelisch Kranke Impressum

MEDIKAMENTEN-ABHÄNGIGKEIT

Psychosoziale Ursachen: Kurzinformation in Stichworten

[Download als PDF]

Die Medikamenten-Abhängigkeit gehört zu der am schwersten durchschaubaren und konkret erfassbaren Suchtform. Betroffen sind vor allem suchtgefährliche Schmerz-, Schlaf- und Beruhigungsmittel, aber auch Abführ- und Anregungsmittel, Appetitzügler u. a. Frauen und das höhere Lebensalter sind besonders betroffen, Männer und die mittleren („besten“) Lebensjahre holen auf.

Obgleich das Beschwerdebild einer medikamentösen Abhängigkeit schwer einzuordnen ist, gibt es doch einige konkrete Hinweise auf seelischer, körperlicher und psychosozialer Ebene. Und es gibt Ursachen, die es zu respektieren gilt, um eine solch folgenschwere Krankheits-Entwicklung rechtzeitig zu erkennen, zu akzeptieren(!), vorbeugend zu verhindern und ggf. zu behandeln.

Einige Stichworte dazu sind Anspruchshaltung, schicksalhafte Belastungen, familiäre Häufung, Arzneimittelwerbung, frauen-typische Ursachen, Freiverkauf, kritikwürdige Vorwürfe bezüglich Hersteller, Ärzteschaft und Apotheken. Dazu eine Reihe von Zusatz-Faktoren wie krankmachendes soziales Umfeld, Medikamente als psychosozialer Ausgleich, medikamentöse Laien-Prophylaxe, Mehrfach-Erkrankungen, Persönlichkeitsstruktur von Arzneimittel-Abhängigen, Vorbild-Wirkung und Nachahmungs-Verhalten u. a.

Nachfolgend deshalb eine kurz gefasste Übersicht in Stichworten zu den wichtigsten psychosozialen Ursachen der Medikamenten-Abhängigkeit heute.

Die Medikamenten-Abhängigkeit ist die zwiespältigste Suchtform in unserer Zeit und Gesellschaft. Man hört, sieht und liest zwar viel über Alkoholismus, Rauschdrogen-Konsum, Nikotin-Abusus, Ess-Störungen, ja über die „neuen“ oder nicht-substanziellen Süchte wie Computer-, Glückspiel-, Kauf-, Fernseh-, Telefon-, Sex-, Arbeits-Sucht u. a. – nur die Medikamenten-Sucht bleibt vielen eine Rätsel.

Warum, das äußert sich nicht zuletzt in treffenden Schlagworten wie „rezeptierte Sucht“ (da meist durch ärztliche Verordnung eingeleitet oder gar unerhalten), „stille Sucht“ (da sie sich im Gegensatz zu anderen Suchtformen in der Regel ohne großes Aufhebens abspielt), oder „weiße Sucht“ (teils konkret: durch Ärzte („Weißkittel“) verordnet oder in Form der häufigen Tablettenfarbe weiß, teils auch symbolisch, weil Tabletten-Abhängige meist eine „weiße Weste“ behalten dürfen), oder auch als „vornehme, Oberschicht- oder gar Privatkassen-Sucht“ bezeichnet.

Dazu wäre viel zu sagen, weil die Medikamenten-Abhängigkeit in der Tat vor wachsende Probleme stellt, und zwar nicht nur was die Betroffenen und ihre Angehörigen, sondern auch Ärzteschaft, Apotheker, Gesetzgeber und sogar die Medien (vor allem durch entsprechende Werbung), ja die gesamte Gesellschaft betrifft.

Nachfolgend deshalb eine kurz gefasste Übersicht zum Thema: Medikamenten-Abhängigkeit im Allgemeinen und psychosoziale Ursachen im Speziellen (weitere Einzelheiten siehe das ausführliche Kapitel zur Medikamenten-Abhängigkeit): Beide basieren auf dem Kapitel: Medikamenten-Abhängigkeit von Professor Dr. Volker Faust und der Apotheken-Leiterin Helga Baumhauer vom Zentrum für Psychiatrie Die Weissenau, Abteilung Psychiatrie I der Universität Ulm in Ravensburg in dem Psychiatrie-Lehrbuch von V. Faust (Gustav Fischer-Verlag, 1996):

HÄUFIGKEIT – GESCHLECHT – LEBENSALTER

Die Häufigkeit jeglicher Suchtform ist statistisch nicht exakt zu fassen. Das liegt schon in der Natur dieser meist verheimlichten Störungen. Deshalb bringt es auch nichts auf die verschiedenen Schätzdaten und Analogieschlüsse einzugehen. Eines ist auf jeden Fall sicher, insbesondere bei der Medikamentensucht: Die Dunkelziffer ist höher als bei den meisten anderen Leiden. Man muss von mehr Betroffenen ausgehen, als die vorliegenden Vermutungen nahe legen.

1,5 bis 1,9 Millionen Medikamenten-Abhängige?

  • - Die Deutsche Hauptstelle für Suchtgefahren schätzt die Zahl der Medikamentenabhängigen in Deutschland auf 1,4 bis 1,5 Millionen. Exakte epidemiologische Untersuchungen dazu sind jedoch nicht bekannt (Jahrbuch Sucht 2004).

  • - Aus den repräsentativen Erhebungen zu Konsum und Missbrauch psychoaktiver Substanzen, die seit 1980 im Auftrag des entsprechenden Ministeriums (BMGS) in mehrjährigen Abständen durchgeführt werden und seit 2000 erstmals auch die Medikamenten-Abhängigkeit erfassen, ergibt sich eine Häufigkeit von mindestens 1,9 Millionen Arzneimittel-Abhängigen (Medikamenten-Abhängig­keit als Haupt- und Zweit-Diagnose).

  • - Im höheren Alter ist jedoch aufgrund neuerer Studien von einer noch höheren Rate von Arzneimittelkonsum und -abhängigkeit auszugehen. Dies betrifft vor allem noch immer die Beruhigungs- und Schlafmittel vom Typ der Benzodiazepine.

  • - Im Vergleich zu den anderen großen Gruppen von Substanz-Abhängigkei­ten sollen die Arzneimittel-Abhängigen demnach nach der Tabak-Abhängigkeit an zweiter Stelle und damit anteilsmäßig noch vor der Alkohol-Abhängigkeit stehen. Dabei sind allerdings erhebliche Überschneidungsbereiche einzukalkulieren (Fachbegriffe: Mehrfach-Abhängigkeit, Polytoxikomanie, Multiple Substanzabhängigkeit).

  • Nach M. Soyka u. Mitarb.: Wo verstecken sich 1,9 Millionen Medikamentenabhängige? Nervenarzt 1 (2005) 72

Das weibliche Geschlecht ist doppelt (bis dreimal?) so häufig betroffen. Ab dem 40. Lebensjahr steigt die Abhängigkeit sprunghaft an, insbesondere bei Frauen. Vom 60. Lebensjahr an kann die Medikamenten-Abhängigkeit als verbreitetes Phänomen bezeichnet werden.

Früher führten Beruhigungs- und Schlafmittel vom Typ der Benzodiazepine, gefolgt von Schmerz- und Hustenmitteln mit morphinartiger Wirkung bzw. entsprechenden Zumischungen. Heute scheinen eher Schmerzmittel vor Schlaf- und Beruhigungsmitteln zu dominieren, gefolgt von Anregungs- und Abführmitteln sowie Appetitzüglern. Allerdings finden sich ständig Verschiebungen des Konsum-, Missbrauchs- und Abhängigkeits-Schwerpunkts.

Weshalb Sucht-Krankheiten so schwer diagnostiziert werden?

Die meisten seelischen Störungen sind schwer zu diagnostizieren. Das liegt nicht zuletzt an den häufig diffusen, vagen, schwer beschreibbaren, nicht nur seelische, sondern auch körperliche (treffender: psychosomatisch interpretierbare) und psychosoziale Beeinträchtigungen aufweisendenden Beschwerdebildern (alter Lehrsatz: „Je diffuser, desto psychogener“). Manchmal will sich der Patient auch nicht untersuchen lassen und bisweilen will er zwar ärztliche Hilfe, lockt aber – bewusst oder unbewusst – auf eine falsche Fährte. Bei den Suchtkrankheiten kann alles eine Rolle spielen, nicht zuletzt also die wenig eindeutige Symptomatik und die gezielten, ja verzweifelten Verheimlichungstendenzen.

So kommt es, dass vor allem Medikamenten-Abhängige von den niedergelassenen bzw. klinisch tätigen Nicht-Psychiatern nur selten, von Nervenärzten ambulant und sogar stationär nicht in jedem Fall erkannt werden („bei den Arzneimittel-Süchtigen ist die Fehldiagnose die häufigste Diagnose...“).

Schon die Mehrzahl der heutigen Rauschdrogen-Generation gibt sich so unauffällig wie möglich, um nicht aufzufallen und sich speziell den Weg zu den Ersatzstoffen nicht zu verbauen (Beruhigungs-, Schlaf- und (opiathaltige) Schmerzmittel, Psychostimulanzien usw.). Nikotin-Süchtige werden in der Regel nicht einmal als solche erkannt, auch wenn schon die äußerlichen Hinweise unübersehbar sind (z. B. gelbgefärbte Fingerspitzen). Sogar die meisten Alkoholiker fallen nicht auf, weil man sich vom falschen Bild des abgewrackten Trunksüchtigen in die Irre leiten lässt und vergisst, dass der Alkohol-Missbrauch in allen Schichten vorkommt (ungeliebtes Beispiel („Olympier“): Johann Wolfgang von Goethe soll in seiner „besten“ Zeit bis auf drei Flaschen Wein pro Tag gekommen sein).

Am wenigsten fallen deshalb die Tabletten-Abhängigen auf, insbesondere die so genannten „stabilen Abhängigen“. Bei ihnen ist letztlich nur im Entzug und dann bei eindeutigen Abstinenz-Symptomen ein gezielter Verdacht möglich. So lange die Stoffzufuhr gesichert ist, sind aber keine Entzugserscheinungen zu erwarten. Bei stabiler Abhängigkeit ist sogar einem Teil der Patienten selbst nicht klar, dass er süchtig ist.

Diagnostische Hinweise

Deshalb einige Hinweise auf verschiedenen Ebenen mit der Frage: Was ist im Hinblick auf Missbrauch oder Abhängigkeit verdächtig, und zwar sowohl bezüglich Ursachen als auch Folgen?

  • Psychische und psychosoziale Aspekte: Bei vielen Suchtkranken im Allgemeinen und Medikamenten-Abhängigen im Besonderen finden sich vorangehende seelische Störungen oder gar Krankheiten. So etwas erfährt man allerdings nur, wenn man eine exakte Eigen- und Fremd-Anamnese (Erhebung der Vorgeschichte) durchführen kann (darf!), einschließlich Arztbriefe, Krankengeschichten usw. (sofern die Einwilligung des Patienten vorliegt). Weitere Einzelheiten siehe später.
  • Körperliche Aspekte: Hier finden sich als mögliche Ursachen insbesondere Übergewicht/Fettsucht (Appetitzügler?), vor allem aber chronische Schmerzzustände (Schmerz- und Schlafmittel) sowie als spätere Sucht-Folgen gehäufte Traumata (Stürze, Frakturen, Verletzungen, Blutergüsse) sowie Brandwunden, Einnässen/Einkoten ohne erklärbaren Grund. Ferner natürlich Labor-Befunde (speziell Leber), bestimmte Antikörper, Herz-Kreislauf-Symptome u. a.

Vorsicht: Befindlichkeitsstörungen und Krankheiten werden übertrieben oder simuliert, um den Arzt zur gewünschten Verschreibung zu bewegen. Gehäufte Infektionen, oft mit außergewöhnlichen Erregern (Tetanus, Pilze) weisen auf Injektionen unter Vernachlässigung der hygienischen Regeln hin. Krampfanfälle (nicht zuletzt nachts: blutiges Kopfkissen durch Zungen- oder Wangenschleimhaut-Biss, Einnässen, Einkoten, Blutergüsse usw.) sind auf Entzug süchtigmachender Arzneimittel verdächtigt; ähnliches gilt für ein epilepsie-verdächtiges Enzephalogramm (EEG/Hirnstrombild). Bei allgemeiner Kachexie (Auszehrung) ist an schwere Medikamenten-Abhängigkeit oder Mehrfach-Abhängigkeit (Polytoxikomanie) im Spätstadium zu denken.

  • Soziale Aspekte: Wichtige Hinweise sind familiäre Schwierigkeiten bis zur Trennung/Ehescheidung, gehäufte Fahr-, Betriebs- und Hausunfälle, Nachlassen der Leistung, häufiger Arbeitsplatz-Wechsel und -Verlust, ggf. beruflicher Abstieg. Später unter Umständen kriminelle oder halbkriminelle Praktiken zur Medikamenten-Beschaffung (Simulierung von Krankheitszeichen, Beschaffung durch Dritte, Rezept-Fälschung bzw. -Diebstahl, Überreden des Apothekenpersonals zur Abgabe ohne Verschreibung, Arzneimitteldiebzahl, Apothekeneinbrüche, Bedrohung von Arzt, Apotheker bzw. deren HelferInnen). Weitere Einzelheiten siehe später.

Verdachts-Hinweise bei Vorgeschichte und Untersuchung

Auch wenn es Patienten gibt, die von selber kommen und offen und glaubwürdig über ihre Suchtgefährdung berichten, sollte man doch eines nicht vergessen: Die Verheimlichungstendenz Arzneimittel-Abhängiger ist oftmals größer als die anderer Suchtkranker, glauben sie doch aufgrund ihrer gesellschaftlichen und beruflichen Position mehr zu verlieren als andere. Deshalb geht der versierte Arzt behutsam vor, lässt sich Zeit und nutzt die indirekte Diagnose-Strategie der „Umgehungs-Diagnose“, bei der es nicht so sehr um Missbrauch und Sucht, sondern um die psychosozialen Nöte des („unschuldig“) süchtig entgleisten Medikamenten-Abhängigen geht.

Einstieg sind deshalb grundsätzlich Beschwerdebild, partnerschaftliche, familiäre, berufliche und sonstige Belastungen sowie die scheinbare „Unmöglichkeit“, ohne die medikamentöse „Krücke“ auszukommen.

Eine gute Gesprächs-Schiene sind auch die sozial akzeptierten Genussmittel Nikotin und Koffein (Patienten mit Arzneimittel-Abhängigkeit pflegen häufiger als der Durchschnitt zu rauchen und reichlich Kaffee zu trinken, wenngleich nicht immer so extrem wie bisweilen Alkohol- oder Mehrfach-Abhängige). Mitunter wurden eine Nikotin- und Alkohol-Gefährdung schon früher erfolgreich überwunden, dafür ist man jetzt an bestimmten Medikamenten „hängen geblieben“.

Wenn sich das Gespräch den Arzneimitteln nähert, dann geht es erst einmal um nicht-psychotrope Substanzen (ohne direkte Wirkung auf das Zentrale Nervensystem und damit Seelenleben, z. B. Herz, Kreislauf, Magen-Darm, Stoffwechsel usw.). Nach und nach kann man sich dann auch suchtgefährlichen Medikamenten nähern, wobei Schmerzmittel scheinbar eher zugestanden werden als Schlafmittel und diese leichter als Tranquilizer oder gar Psychostimulanzien. Chronische Schmerzustände und längere Schlaflosigkeit entschuldigen offenbar eher ein Abrutschen in die Sucht als Nervosität, Stimmungslabilität, funktionelle Beschwerden, Leistungseinbruch oder gar chemische Aktivierung.

Wenn ein Patient übrigens mehrere Arzneimittel einer Suchtstoffklasse genau kennt, womöglich sogar Packungsgröße, Hersteller, Tablettenform und -größe nennen kann, ist dies ein wichtiger Hinweis. Das Gleiche gilt für Alternativ-Präparate, also möglichen Substanz-Austausch mit gleicher Wirkung.

Manche Patienten sind auf ein, d. h. letztlich „ihr“ Präparat fixiert; andere wechseln aus verschiedenen Gründen, nicht zuletzt um von diesem Medikament nicht abhängig zu werden, obgleich sie wissen oder ahnen, dass sie nur den Wirkstoff innerhalb der gleichen Stoffklasse, manchmal sogar nur den Präparate-Namen gewechselt haben.

Viele Betroffene tragen auch einen „Notvorrat“ bei sich (Hand- oder Pfeifentasche, Geldbeutel usw.), ohne den sie sich zuletzt nicht mehr „auf die Straße wagen“.

Bei der körperlichen Untersuchung fallen insbesondere vielfältige Blutergüsse verschiedenen Alters (und damit Farbe) auf, und zwar besonders an Becken- und Schultergürtel sowie Armen und Schienbeinen. Dabei muss man allerdings Alkoholismus und andere zur Gangunsicherheit führende Erkrankungen ausschließen. Auch Verletzungen und Verbrennung sind nicht so selten, desgleichen Injektions- und Abszessnarben sowie Pigmentierungen (Hautfarbe-Veränderungen) im Bereich venöser Stauungen (Injektionen?).

Im Entzugssyndrom kommt es häufig zu vegetativen Entgleisungen: Schweißausbrüche, Zittern, gesteigerte Eigen- sowie enthemmte Fremdreflexe. Zungenbissnarben weisen auf frühere Entzugskrampfanfälle hin. Eine auffällige körperliche Verwahrlosung ist möglich, aber deutlich seltener als z. B. beim fortgeschrittenen Alkoholismus oder Rauschdrogenkonsum, von der Mehrfach-Abhängigkeit ganz zu schweigen.

Auf die Bedeutung des Elektroenzephalogramms (EEG/Hirnstrombild) wurde bereits eingegangen. Auch lassen sich praktisch alle Suchtstoffe im Urin nachweisen.

Wie kommt es zur Medikamenten-Abhängigkeit?

Die Medikamenten-Abhängigkeit ist ein relativ altes Leiden (früher z. B. Barbiturate, Bromide, Bromureide, Metaqualon u.a.m.). Zahlreich sind deshalb auch die Überlegungen zu Ursachen, Hintergründen, Auslösern u.a. Nachfolgend deshalb lediglich einige Stichworte ohne Wertung durch die alphabetische Reihenfolge:

Psychosoziale Aspekte

  • Anspruchshaltung: wachsende Ansprüche, was einen nebenwirkungsfreien Sofort-Therapieeffekt anbelangt, und zwar ohne eigene Mitarbeit wie Änderung der Lebensführung, Abbau von Stress, Verzicht auf Genussgifte u. a. Unwillig, den eigenen geringen Kenntnisstand aufzubessern, um aus eigener Kraft voranzukommen; fordernd bis bedrängend, was sofortige Rezeptierung, Wunsch-Medikation („dies und nichts anderes“), überlange Weiter-Rezeptierung (ständig neue Rezept-Wünsche ohne stichhaltige Begründung) usw. betrifft.
  • Arzneimittelwerbung: beängstigend wachsender Trend in den Printmedien (Zeitschriften, Zeitungen, Journale, Magazine) und im Fernsehen, weniger ausgeprägt im Hörfunk; psychologisch raffiniert dargeboten und mit inhaltlich immer bedenklicheren Beeinflussungs-Strategien. Konsequenz: Einstellungswandel in Richtung medikamenten-gesteuertes Genusserleben durch Arzneimittel: „schnell konsumierbare Gesundheit“, „pharmakogene (medikamenten-bedingte) Fitness“, „medikamenten-abhängige Wellness“ u. a. Damit medikamentöse Befindlichkeitssteuerung ohne medizinische Notwendigkeit und vor allem mühsame Eigenleistung.
  • Einschneidende biographische Lebensereignisse (life-events), wobei der Schweregrad immer individueller und damit schwerer abstufbar wird: von veränderten Schlafgewohnheiten über emotional belastende Zeiten („Weihnachtsdepression“) bis zu Berentung („Pensionierungsschock“), Trennung oder Tod eines nahestehenden Menschen usw. Dazu kommen noch bestimmte, ggf. abhängigkeits-gefährliche Altersstufen wie Adoleszenz (Heranwachsende), Lebensmitte (Wechseljahre, Beginn des Rückbildungsalters) und schließlich das höhere Lebensalter. Und natürlich die beiden Extreme: Arbeitslosigkeit oder -stress.
  • Familiäre Häufung: Genetische (Erb-)Aspekte und familiäre Vorbild-Funktionen im negativen Sinne sind bei Alkoholkrankheit, aber auch Nikotin-Sucht, Beruhigungs- und Schlafmittel-Abhängigkeiten häufig anzutreffen (zuletzt eine Kombination aus biologischer Basis, individueller Disposition (Neigung), Nachahmungsverhalten und gesellschaftlicher Bahnung).
  • Frauen-typische Ursachen mit den beiden Schwerpunkten Berufsarbeit und Familien-Anspruch. Einzelheiten siehe spezielle Literatur. Dabei sollte man nicht nur von Überforderung und Doppel-Belastung ausgehen, sondern auch von einem Faktor, der gerne vergessen wird, aber in einem Satz zusammengefasst werden kann: Die Frau soll eine überdurchschnittliche emotionale (!) Versorgungsarbeit in der Familie leisten, nur für sie selber steht niemand zur Verfügung (Erschöpfung nach einem endlosen Prozess des Gebens und Vermittelns).
  • Freiverkauf in der Apotheke: wachsende Selbstmedikation mit freiverkäuflichen Arzneimitteln, die zur süchtigen Entgleisung geeignet sind (Appetitzügler/Schlankheitsmittel, Abführmittel, koffeinhaltige Schmerzmittel, alkoholhaltige Hustenmittel oder „Gesundheitstropfen“ usw.).
  • Hersteller: noch immer nicht ausreichend aktuelle, fundierte (und selbstkritische) Informationen. Dafür verklausulierte Darstellungen in den Werbebroschüren, selbst für die Ärzteschaft. Mitunter sogar unseriöse oder gar (unbewusst?) irreführende Werbeaussagen, vor allem bei „Informationen“, die für die Allgemeinheit bestimmt sind (kritische Kommentare und Fachblätter liest niemand!). Dürfte sich im kommenden Konkurrenzkampf noch verstärken.
  • Iatrogene Aspekte (ärztliche Ursachen) in Stichworten: unzureichendes Informations-Bemühen („Stress“), ungenügender Einsatz nicht-medikamentöser Beruhigungs-, Schlaf- und sonstiger Hilfen; wenig Motivation/Zeit für psychotherapeutische Zuwendung oder soziotherapeutische Korrekturversuche; nicht selten zu rasche Medikation von Beruhigungs-, Schlaf- und Schmerzmitteln ohne entsprechende Alternativen (Wahl-Möglichkeiten) zu suchen; Gefahr der unkritisch wiederholten Rezeptierungen („Verordnungsautomatie“). Wenig Motivation/Zeit den inzwischen abhängig Gewordenen gemeinsam aus seiner Notsituation herauszuführen.

Gegen-Argumente der betroffenen Ärzte: Aus-, Weiter- und Fortbildung in diesen Punkten unzureichend (aber auch nicht ausreichend genutzt); hilfreiche Fachliteratur zu kompliziert und vor allem zu wenig praxisbezogen und selten auf die Bedürfnisse des realen Alltags zugeschnitten; abhängige Patienten gehören zur schwierigsten Klientel (Kundschaft), die einem Arzt in Klinik und Praxis aufgebürdet werden kann. – Selten zugegebener, aber derzeit immer bedrängenderer Faktor: Konkurrenzkampf („wenn ich es nicht mache, macht es der Kollege...“).

  • Indikations-Lyrik: ironische Bezeichnung für eine wachsende Zahl von Heilmittelanzeigen durch die Hersteller zur optimalen Vermarktung eines Wirkstoffs bis hin zu Befindlichkeitsschwankungen. Stichworte: Stimmungsschwankungen, Antriebsstörungen, nervöse Reiz-, Überforderungs- und Erschöpfungszustände, emotional bedingte Schlaf- und funktionelle Organ-Störungen, leichtere vegetative und psychosomatisch interpretierbare Beeinträchtigungen, Merk- und Konzentrationsschwäche usw. Und das alles in sanften Argumentierhilfen zur entlastenden Selbst-Entschuldigung („so ist es“, „da steht es ja genau...“).
  • Kinder, Jugendliche und Heranwachsende geraten immer früher und häufiger in den bekannten Stress-Sog, an dem sie selber (und ihre Eltern) nicht unbeteiligt sind. Folge: Verhaltensauffälligkeiten, Wunschspirale mit unrealistischem Anspruchsniveau, Unfähigkeit zum Verzicht, Arbeitsstörungen, insbesondere durch Merk- und Konzentrationseinbußen (Stichworte: Fernsehkonsum, Computer-Sucht), schließlich vegetative, funktionelle und zuletzt sogar schmerzbetonte Beeinträchtigungen mit schulischer Minderleistung, törichten Behandlungsansprüchen und ggf. medikamentösem Ersatz für pädagogische Mängel (der Eltern und nicht der Lehrer!) und damit selbst zu verantwortender Überforderung. Zuletzt Gefahr der „Pharmakologisierung“ („nur Medikamente“) angeblich auffälligem kindlichen Verhaltens oder von Leistungseinbußen ohne adäquate fachärztliche Diagnose (Kinder- und Jugendpsychiater!) und erst einmal empfohlenen nicht-medikamentösen Therapieversuchen.

Krankheitsbild – Persönlichkeitsstruktur – psychologische Ursachen – wirkstoff-bezogene Faktoren

Dass die Medikamenten-Abhängigkeit ein überaus vielschichtiges Phänomen ist, möglicherweise ausgeprägter als die anderen Suchtformen, soll durch die nachfolgenden Ursachen und Folgen erläutert werden:

  • Krankmachendes soziales Umfeld: zahlreiche Theorien bezüglich Vater und Mutter und deren An- bzw. Abwesenheit, Vorbild, pädagogischen Einflussnahme, Stellung gegenüber Genussgiften und psychotropen Arzneimitteln („chemische Lösung“ emotionaler und zwischenmenschliche Probleme, Selbst-Medikationsverhalten u. a.). Besonders folgenschwer: familiäre Krisen, Trennung, Scheidung, schließlich zerrüttete Familien usw.
  • Medikamente als psychosozialer Ausgleich: Arbeitsbelastung, Kommunikationsstörung, Hektik, Lärm als meist unterschätzter Faktor (!), grelles Licht (Reklame, „light pollution“), strikte Zeit-Takt-Abhängigkeit usw., sie alle führen immer häufiger zu einem schwer durchschaubaren stress-bedingten Belastungsbild, das zu so genannten „abschottenden Medikamenten“ greifen lässt (Schlaf-, Beruhigungs- und sogar Schmerzmittel). Aber nicht nur Arbeits-Stress, sondern auch Arbeitslosigkeit (erzwungene Untätigkeit) und damit entsprechende Entwertungsgefühle, Isolation und depressive Reaktionen sollen damit erleichtert werden.
  • Medikamentöse Laien-Prophylaxe, d. h. vorbeugende Behandlung lästiger Alltagssymptome ohne nicht-medikamentöse Eigen-Initiative. Beispiele:
  • - Schmerzmittel gegen drohende Kopfschmerzen (Arbeit: Nacht- und Schichtdienst, Freizeit: lange Disko-Nächte).
  • - Beruhigungs- und schließlich Schlafmittel gegen Alltagsstress oder Hektik bzw. die selbst-gewählte Schlafreduktion (fortlaufendes Schlaf-Defizit durch abendliche -> nächtliche Aktivitäten, überlangen Fernseh-Konsum u. a.).
  • - Arzneimittel als Alltagsbegleiter zum besseren Funktionieren, zum Durchhalten, sogar als Doping-Mittel (z. B. Schmerzmittel mit Koffein-Zusatz).
  • Multimorbidität (vielfaches Beschwerde- bzw. Krankheitsbild) im höheren Lebensalter: Der ältere Mensch als zahlen- und damit umsatzmäßig interessanteste Zielgruppe der Zukunft, und zwar nicht nur für die gesundheitlich notwendigen Heilanzeigen und ärztlich verordneten Medikamente, sondern bisweilen in einer Form, die von Kritikerseite schon als „chemische Gewalt gegen alte Menschen“ gegeißelt wurde (Beruhigungs-, Schmerz- und Schlafmittel sind fast immer beteiligt).
  • Persönlichkeitsstruktur und Arzneimittel-Abhängigkeit: seit jeher diskutiert, aber umstritten. Frühere Vermutungen reduzierten sich auf die Stichworte: „degenerative Anlage“, „psychopathische Konstitution“, „neurotische Entwicklung“ usw. Doch es gibt keine einheitliche „Sucht-Persönlichkeit“. Deshalb lassen sich Risiko-Persönlichkeiten nur schwer bestimmen. Lediglich eine schon in der Vorgeschichte deutlich werdende Neigung zu süchtigen Fehlhandlungen stellt einen einigermaßen zuverlässigen Hinweis dar. Neuere Erkenntnisse diskutieren dagegen folgende (hypothetische) Möglichkeiten:
  • - Probierer und Experimentatoren: wahrscheinlich eher bei illegalen Rauschmitteln. Kommt aber auch bei manchen Arzneimitteln vor (Selbst-Behand­lungsexperimente).
  • - Sensationshungrige Menschen, die nach neuen Erfahrungen streben und diese auch unter Verleugnung bestimmter Risiken suchen. Wichtigster Auslöser: Langeweile und Euphorie-Sucht (Gier nach inhaltslosem Glücksgefühl, und zwar ohne Eigenleistung).
  • - Hedonisten, also Personen, die nach möglichst großer Ausgeglichenheit streben und keine Erschütterung ihrer seelischen Balance ertragen. Auch hier drängendes, zuletzt blindes Verlangen, ja Gier nach neuen Erlebnissen und einer ständig angehobenen Grundstimmung.
  • - Überempfindliche Menschen mit einer niedrigen Reizschwelle, die auf äußere und innere Belastungen entsprechend überzogen reagieren. Hier sollen Arzneimittel den Reizschutz verstärken (siehe der Begriff der „abschottenden Medikamente“).
  • - Spannungs-intolerante Menschen, die auf Einnahme einer zuletzt ganz bestimmten Substanz angewiesen sind, um ein halbwegs eingependeltes Innenleben zu garantieren. Hier sind dann auch mal unübliche Suchtformen möglich.
  • Psychodynamische Aspekte: Hier ist die Zahl der Hypothesen zu Suchtentstehung und -verhalten nicht mehr überblickbar. Allen gemeinsam aber ist die Erkenntnis: Nie geht es um die süchtige Handlung allein.
  • - Deshalb ist es für viele Betroffene von untergeordnetem Interesse, auf welchem Wege sie den erstreben Erlebniszustand erreichen. Das begünstigt auch die Verschiebung verschiedener Suchtformen und -ebenen und damit die Mehrfach-Abhängigkeit (Polytoxikomanie). Am Ende steht die Suche bzw. der Zwang nach jederzeit steuerbarer Manipulation der Befindlichkeit. Der Abhängige nimmt gezielt Einfluss auf sein seelisches Erleben. Er tut dies aber nicht durch adäquates und realitätsgerechtes Handeln. Sein positiv gefärbtes Erlebnis ist vielmehr das Resultat stofflicher Einflussnahme (gelegentlich aber auch durch nicht-stoffgebundene Suchtformen wie PC-, Spiel-, Kauf-, Arbeits-, Fernseh-, Telefon-, Klatsch-, Sex- u. a. Sucht).
  • - Ein weiteres Charakteristikum ist die unangemessene Dominanz der Gegenwart innerhalb süchtigen Erlebens. Der Süchtige lebt völlig im Hier und Jetzt. Die Befriedigung seiner Wünsche hat sofort zu erfolgen, nicht irgendwann und schon gar nicht aufgrund aufbauender Leistung. Die Vergangenheit verliert ihren bedeutungsgebenden Sinn für die Gegenwart, die Zukunft ihren gegenwartsgestaltenden Einfluss. Die Zukunftsplanung reduziert sich schließlich auf die Organisation der Sucht, d. h. konkret auf die gesicherte Zufuhr des Suchtmittels.

- Wichtige Konsequenzen: Das süchtige Fehlverhalten ist geprägt durch Ausweichcharakter, Verlust an Freiheit, Einengung des Denkens und Handelns, Manipulation der Befindlichkeit sowie Gegenwarts-Dominanz.

  • Randgruppen, z. B. Aussiedler, deren Medikamenten-Abhängigkeit (vor allem Beruhigungs- und Schlafmittel) anfangs unter dem allgemeinen Niveau liegt, später aber durch seelische, psychosoziale und zuletzt körperliche Beeinträchtigungen überdurchschnittlich ausufern kann.
  • Rezeptpflicht: Nach Einführung der Rezeptpflicht deutlicher Umsatzrückgang suchtgefährlicher Arzneimittel.
  • Suchtstoffwechsel/Suchtstofferweiterung: Alkoholabhängige neigen speziell zu Schlaf- und Beruhigungsmitteln, Heroinabhängige zu legalen Schmerzmitteln aus der Gruppe der Opiate. Allerdings ist jede Form von Suchtstoffwechsel möglich.
  • Verordnungs-Automatie: mangelhafte Kontrolle, ständige Rezeptierungen ohne Prüfung, unkritisches bis resigniertes Nachgeben mancher Ärzte gegenüber Anspruchshaltung und Wunschspirale einiger Patienten („zu anstrengend“, „nur Ärger“, „geschäftsschädigend“).
  • Verordnungs-Häufigkeit: je häufiger verordnet, desto größer bei entsprechendem Suchtpotential die Abhängigkeitsgefahr. Das ist zwar bisher wissenschaftlich nicht ausreichend untersucht und nachgewiesen, hat aber eine logische Konsequenz, die auch die Alltags-Beobachtungen nahe legen.
  • Vorbildwirkung und Nachahmungsverhalten gehören zu den ergiebigsten psychologischen Einflussnahmen der Werbung und sind auch in der eigenen Familie oder im näheren Umfeld noch immer ein entscheidender Faktor. Beispiele auf medikamentöser Ebene: Beschwerden bei der Monatsblutung, Migräne (Schmerzmittel), Leistungseinbruch, Nervosität, Arbeitsüberlastung, Prüfungsstress usw. (Kaffee, Cola-Getränke, Nikotin, Beruhigungs- und Schlafmittel).

Literatur

Grundlage dieses stichwortartigen Auszuges ist das Kapitel:

V. Faust, H. Baumhauer : Medikamenten-Abhängigkeit In: V. Faust (Hrsg.): Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Klinik, Praxis und Beratung. Gustav Fischer-Verlag, Stuttgart-Jena-New York 1996

Weitere Einzelheiten, insbesondere was die verschiedenen sucht-riskanten Substanzen anbelangt (z. B. Benzodiazepine, Opioide u. a.) siehe das ausführliche Kapitel über die Medikamenten-Abhängigkeit in der Internet-Sparte

Psychiatrie heute

http://www.volker-faust.de/psychiatrie

Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise.
Bei persönlichen Anliegen fragen Sie bitte Ihren Arzt.
Beachten Sie deshalb bitte auch unseren Haftungsausschluss (s. Impressum).