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Amok

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Blindwütige Gewaltdurchbrüche als neue Gefahr?

Amok: plötzliche, unmotivierte, wahllose Gewalttaten mit schrecklichen Folgen. Früher eigentlich eher ein Ereignis aus dem Fernen Osten. In letzter Zeit vermehrt aus dem Nahen Osten und den USA. Inzwischen auch in Mitteleuropa, insbesondere in Deutschland und der Schweiz ein Begriff, der Böses ahnen lässt.

Was versteht man darunter? Was sind das für Täter? Und vor allem: kann man überhaupt etwas tun?

Nachfolgend deshalb eine kurzgefasste Übersicht über dieses (scheinbar) überraschende und damit besonders unfassbare Geschehen, auch als "Gipfel der Brutalisierung" bezeichnet.

Amok ist furchtbar, aber bisher glücklicherweise sehr selten, auch wenn das Spektakuläre der Tat eine falsche Häufigkeit vorgaukelt.

Die letzten Hochrechnungen aus der Zeit von 1980 bis 1990 sprechen von einer so genannten Ein-Jahres-Prävalenz (Anzahl der in einem Jahr betroffenen Personen) von 0,03 bei Männern und 0,002 (man beachte die zusätzliche Null) bei Frauen pro 100.000 Bundesbürger. Heute, mehr als 10 bis 20 Jahre danach dürften sich diese Zahlen nicht mehr halten lassen. Man befürchtet eine ständige Zunahme, nicht zuletzt durch eine besonders unfassbare und tragische Form des Amok, in den USA school shootings genannt, also für Amokläufe Jugendlicher an (ihren) Schulen.

Genaue Kenntnisse über die Amokläufer gibt es allerdings wenig, selbst dort, wo solche Bluttaten nicht selten sind. Denn die meisten Täter werden entweder von Ordnungskräften oder der verzweifelten Umgebung "außer Gefecht gesetzt" oder richten sich selber.

Was heißt Amok?

Der Begriff stammt ursprünglich aus dem malaiischen Wort amuk und bedeutet "wütend" oder "rasend". "Amucos" wurden früher Krieger im Fernen Osten genannt, die den Feind mit Todesverachtung angreifen und vernichten, wobei den Gegnern schon ihr Kriegsgeschrei: "Amok, Amok!!" förmlich lähmte. Manche Herrscher hielten sich regelrechte Amok-Einheiten, die selbst weit überlegende Heere attackierten und dabei fürchterliche Blutbäder anrichteten. Im Übrigen galt Amok in diesen Regionen bis zum Ende der Kolonialzeit auch als mehr oder weniger akzeptierte Form politischen Widerstandes und wurde erst später gesellschaftlich und staatlich geächtet.

Daneben gab es seit jeher die individuelle Motivation amok-artigen Verhaltens, auch als blutiger sozialer Protest, z. B. bei zahlungsunfähigen Schuldnern, die damit der drohenden Versklavung entgehen wollten und einen "ehrenvollen" Tod suchten.

Auch im Westen gab es schon früher Amok-Krieger (z. B. die Berserker im Dienste skandinavischer und sogar byzantinischer Fürsten).

Inzwischen gilt Amok als erweiterter Begriff für jede blindwütige Aggression mit und ohne Todesopfer, ja sogar als Charakterisierung von "gnadenlosen Zweikämpfen", wildgewordenen Tieren oder verheerenden Naturgewalten.

Wie definiert man Amok wissenschaftlich?

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) definiert Amok als eine "willkürliche, anscheinend nicht provozierte Episode mörderischen oder erheblichen (fremd-)zerstörerischen Verhaltens". Dabei muss diese Gewalttat mehrere Menschen gefährden, d. h. verletzen oder gar töten, wenn von Amok die Rede sein soll.

Wie entwickelt sich ein Amok-Zustand?

Früher versuchte man den Amoklauf in verschiedene Stadien einzuteilen. Ob das heute noch zutrifft, insbesondere für Amok in der westlichen Welt, muss erst noch geprüft werden.

In einem Vorstadium - so hieß es schon damals - finden sich gehäuft Milieu-Schwierigkeiten, der Verlust der sozialen Ordnung, vor allem aber Zurückweisungen, Demütigungen, Kränkungen, Beleidigungen und eine Beeinträchtigung des persönlichen Ansehens - zumindest aus der Sicht des Betroffenen. Fällt dies alles mit einer bestimmten Wesensart zusammen, die eine solche Belastung schließlich unerträglich und nur noch durch einen Gewaltdurchbruch neutralisierbar macht, ist ein Amok-Lauf nicht mehr auszuschließen (siehe später). Auf diesem Boden muss dann der eigentliche Auslöser nicht einmal besonders bedeutsam erscheinen.

Danach kommt es - so frühere Untersuchungen - zu einem so genannten "Bewegungssturm", also einem planlosen Angriff auf Menschen, Tiere oder Gegenstände. Den Abschluss eines "typischen" Amoklaufs bildet ein "tiefer Schlaf" oder - wissenschaftlich gesprochen - eine stunden- bis tagelang anhaltende seelisch-körperliche Erstarrung. Und für alles eine völlige Erinnerungslosigkeit, zumindest behauptet.

In der Realität aber - besonders wenn es Verletzte und Todesopfer gefordert hat und sich die überraschte bis verzweifelte Umgebung schließlich zur Gegenwehr formiert -, riskiert der Amokläufer sein Leben oder richtet sich selber. Letzteres schien schon früher der Regelfall zu sein.

Was weiß man über Alter, Geschlecht und sozialen Status?

Bei den früheren Untersuchungen, insbesondere aus dem Fernen Osten, waren es meist Jüngere, seltener mittleres Lebensalter, fast ausschließlich Männer und überwiegend Angehörige der Grundschicht mit geringer Ausbildung.

Neuere Untersuchungen, insbesondere aus dem Westen sprechen von mittleren, aber auch zunehmend jüngeren Jahrgängen (siehe Schul-Amok), wobei allerdings keine Altersgruppe völlig ausgeschlossen bleibt. Das männliche Geschlecht, oft ledig oder geschieden, überwiegt unverändert. Doch gibt es durchaus auch Amokläuferinnen.

Was die soziale Herkunft anbelangt, muss man für uns offenbar umdenken: Nicht wenigen Tätern gelingt zunächst eine berufliche Qualifikation und gesellschaftliche Integration oder kurz: Sie sind nach außen meist "unauffällige" Mitbürger. Dann aber braut sich etwas zusammen, für das Umfeld offenbar weitgehend unerkennbar (und nicht nur unerkannt, weil man vielleicht nur ungern näher hinschaut). Und irgendetwas, oft nicht einmal akut oder ein für die Umgebung gar nicht besonders belastendes Ereignis löst dann die schreckliche Tat aus.

In zunehmendem Maße kommt es aber offenbar auch zu einer Art "Tat-Entwicklung", das heißt der aggressive Durchbruch baut sich innerlich auf und nimmt sogar strukturell erst langsam Gestalt an (Form, Ort, Zeit, Waffenwahl). Hier deutet sich dann eine gewissen präventive (vorbeugende) Möglichkeit an, was die Kriminologen, Psychologen und Sicherheitskräfte inzwischen gezielt beschäftigt (siehe später).

Was diskutiert man über Ursachen, Hintergründe und Auslöser?

Bezüglich der Hintergründe und Ursachen wurde - zumindest früher - praktisch alles in Erwägung gezogen: körperliche Leiden (z. B. Epilepsie, Malaria), seelische Störungen (insbesondere die so genannte katatone und paranoide Form der Schizophrenien), ferner hirnorganische Veränderungen, Vergiftungszustände (meist Rauschdrogen, z. B. das gewalt-gefährliche Kokain, was auch heute noch eine Rolle spielt) u.a.

An erster Stelle stehen aber nach wie vor psychosoziale Ursachen, also die schon erwähnten Benachteiligungen, Demütigungen, Kränkungen und Beleidigungen, wobei der Betroffene für sich selber entscheidet, ob angebracht oder ungerecht, ob real oder eingebildet, meist allerdings in seinem verdrossenen bis schließlich verbitterten oder gar verzweifelten Sinne.

Nachfolgend deshalb eine kurzgefasste Übersicht über mögliche Ursachen aus psychiatrischer, biologischer und psychosozialer Sicht.

Können auch psychische Krankheiten eine Rolle spielen?

Bei den seelischen Störungen, die als Ursachen eines Amok-Laufes diskutiert werden, spielen vor allem die erwähnten Toxikomanen (Rauschgiftsüchtigen), Psychose-Erkrankten und - bisher wenig untersucht - die Persönlichkeitsstörungen eine Rolle. Im Einzelnen:

Über die Gefahr, die von einer Drogenabhängigkeit ausgeht, insbesondere im Rauschgift-Entzug, muss nicht weiter diskutiert werden. Hier wird man sich vermehrt auf entsprechende Attacken einstellen müssen, was aber auch andere Gewalttaten (z. B. Geiselnahme) anbelangt.

Bei den Psychosen (Geisteskrankheiten) sind es vor allem die wahnhaften Beeinträchtigungen und ggf. Sinnestäuschungen, die als Auslöser möglich sind, statistisch gesehen aber offenbar keine große Rolle spielen. Das Gleiche gilt für schwere neurotische Entwicklungen mit ausgeprägtem Narzissmus (krankhafte Ich-Bezogenheit und Selbstliebe mit entsprechender Kränkungs-Reaktion). Und sogar Depressionen mit der Gefahr eines erweiterten Suizids (der Patient nimmt noch andere mit in den Tod), was aber mit dem eigentlichen Amoklauf nichts zu tun hat.

Etwas anderes sind die Persönlichkeitsstörungen, früher als Psychopathien bezeichnet. Und hier insbesondere wahnhafte, fanatische oder querulatorische Persönlichkeiten. Das Gleiche gilt für die so genannten dissozialen, antisozialen bzw. asozialen und die emotional instabilen, also aggressiven oder reizbar-explosiblen Persönlichkeitsstörungen. Da sagen ja schon die Fachbegriffe alles aus. Doch auch hier sind fundierte Untersuchungsergebnisse nachträglich schwer zu bekommen, was nicht zuletzt auf den häufig tödlichen Ausgang bei den Tätern zurückgeht.

Gesamthaft gesehen bleibt folgender Eindruck: Dass ein Amok-Läufer seelisch nicht gesund sein kann, ergibt sich schon völlig aus der Tat. Ob es sich aber um eine in der psychiatrischen Krankheitslehre konkret beschreibbare seelische Störung handelt wie Schizophrenie, Depression, Neurose oder Persönlichkeitsstörung u.a. - das ist noch weitgehend unklar. Die bisherige Expertenmeinung lautet: in Einzelfällen ja, in der Mehrzahl wohl nein.

Werden auch biologische Ursachen diskutiert?

Was immer wieder aufhorchen lässt, sind die biologischen Hypothesen zur Ursache des Amoks. Hier diskutiert man vor allem "gehirnphysiologische" Aspekte, insbesondere ein Zuwenig oder gar Fehlen entsprechender Botenstoffe (Neurotransmitter) in bestimmten Hirnregionen.

Das wäre dann gleichsam die organische Basis des späteren Gewaltdurchbruchs, der aber im entscheidenden Augenblick durch eine Häufung nicht mehr bewältigbarer psychosozialer Konflikte gleichsam ausgeklinkt wird. Hier besteht allerdings noch großer Klärungs- und damit Forschungsbedarf. Sollten sich aber entsprechende Mutmaßungen bestätigen, würde sich natürlich auch die Hoffnung erhöhen, rechtzeitig biologisch, d.h. medikamentös eingreifen zu können.

Gibt es eine bestimmte Wesensart, die zum Amoklauf beitragen kann?

Der Frage: Gibt es eine bestimmte Wesensart, die zum Amoklauf disponiert? gilt derzeit das größte Forschungsinteresse. Allerdings fand man schon früher kultur-übergreifende und damit allgemein-menschliche Aspekte, die offenbar überall die gleiche amok-riskante Rolle spielen:

Das sind zum einen eher geringe geistige und gemütsmäßige Gaben (oder zumindest nicht für die jeweilig angestrebte gesellschaftliche Position ausreichend), zum anderen die Neigung und damit Gefahr von Rückzug und Isolation; manchmal auch wahnhafte Umdeutung an sich harmloser Geschehnisse, besonders wenn man seine Umwelt als feindselig erlebt (was noch keine Psychose, also Geisteskrankheit sein muss).

Nicht unwichtig für eine zumindest theoretische Vorbeugung (siehe später) ist auch das Gefühl vieler späterer Amokläufer, niemand sei wirklich für sie da, sie könnten auf keine gemütsmäßige und praktische Hilfe hoffen, seien letztlich allein, verlassen, ausgegrenzt, isoliert und damit verloren - wenn nicht gar verachtet, verlacht oder verhöhnt. Erschwerend kommt dazu noch ihre Unfähigkeit, diese Situation auf herkömmliche Weise zu bewältigen, so wie es den meisten anderen mit ähnlichen Belastungen und wenigstens halbwegs befriedigendem Erfolg vergönnt ist (wer hat nicht täglich mit Frustrationen oder gar Kränkungen zu kämpfen).

Eine wichtige Rolle spielt auch der so genannte "Gesichtsverlust", der im Fernen oder Nahen Osten offenbar eher als Auslöser ausreichen kann. Im Westen ist es aber nicht viel anders, hier unter dem Begriff "Prestige-Verlust" einzuordnen, nämlich Verletzung, Beschämung, Verachtung durch andere - dadurch Selbstbeschämung, Selbstverachtung und schließlich "nackter Hass".

Gibt es verschiedene Amoklauf-Typen?

Die so genannte Transkulturelle Psychiatrie meinte aufgrund ihrer Untersuchungen von fernöstlichen Amokläufern verschiedene Charakter-Typen abgrenzen zu können. Ob sich das auch auf den westlichen Kulturkreis übertragen lässt, bleibt offen. Das, was man bisher zu wissen glaubt, gliedert sich - zumindest theoretisch - in folgende Gruppierungen auf:

  • Da gibt es Amokläufer, die gelten von Natur aus sogar als sanft und gutmütig und haben Schwierigkeiten, ihre Ansprüche und vor allem Aggressionen wirksam zum Ausdruck zu bringen ("Aggressions-Stau", "Beiß-Hemmung"). Hier kann es trotzdem zu einem Gewalt-Durchbruch kommen - und dann natürlich besonders unerwartet.
  • Andere Amokläufer werden als krankhaft geltungsbedürftig geschildert, stellen sich ständig zur Schau und sind außerordentlich empfindlich gegenüber dem erwähnten Verlust an Ansehen und Prestige (neue Stichworte: "Verdruss-Karriere" oder gar "Verhängnis-Karriere"). Hier ist man vielleicht schon nicht mehr so überrascht, wenn eine solche Tat geschieht (siehe auch Schul-Amok).
  • Ein dritter Typ gilt als abnorm ichbezogen, reizbar, ja erregbar, streitsüchtig, ggf. fanatisch, querulatorisch, aggressiv bis explosibel. Er missachtet die sozialen Normen, Regeln und Verpflichtungen, gilt als verantwortungslos und unfähig, die Gefühle der anderen zu respektieren und längerfristige Beziehungen einzugehen. Er hat nicht nur eine niedrige Schwelle für aggressives oder gar gewalttätiges Verhalten, sondern ist auch unfähig, ein normales Schuldbewusstsein zu entwickeln und aus der Erfahrung zu lernen, selbst nicht aus Bestrafungen.

Wenn ein solcher Mensch im Rahmen eines Amok-Laufes zur Waffe greift, ist es zwar ebenfalls furchtbar, aber man ist vielleicht nicht so überrascht wie bei den anderen Wesensarten.

Neue Charakterisierungsversuche, die man besonders aus der jüngeren Medien-Berichterstattung zu rekonstruieren versuchte, scheinen folgende "Prototypen von Tätern" zu identifizieren:

  • Unter den Amokläufern, die sich am Ende selbst töteten, fanden sich zwei Unterkategorien:

- Zum einen waren dies ältere, zuvor unauffällige Täter, die ausschließlich Familienmitglieder attackierten, und dies meist mit Schusswaffen. Sie gingen mit tödlicher Präzision vor, so dass kaum ein Opfer überlebte.

- Zum anderen kam eine Gruppe heraus, die verblüffend genau dem in zahlreichen Hollywood-Filmen entworfenen Stereotyp entsprachen: Es handelt sich charakteristischer Weise um "ledige, kontaktarme, sexuell abstinente oder sexuell perverse Waffennarren, die zum Teil noch bei der Mutter lebten".

Diese Täter griffen entweder nur fremde Personen an oder taten dies, nachdem sie im Anfangsstadium des Geschehens nächste Angehörige ihrer Familie getötet hatten.

  • Amokläufer hingegen, die sich nicht selbst umbrachten, zeigten hingegen andere Handlungsmuster: Sie verursachten beispielsweise enorme Sachschäden, in dem sie nicht die üblichen, sondern ungewöhnliche Waffen einsetzten, nämlich Pkw, Lkw, Busse oder sogar Panzer, die sie zuvor entwendet hatten und aufgrund entsprechender Vorkenntnisse auch offensichtlich zu steuern wussten.

Deren impulsive Gewaltakte führen zu weniger Todesopfern, dafür aber zu hohen Sachschäden, einschließlich einer trotzdem gewalttätigen Gefährdung ahnungsloser Mitmenschen, die nur aufgrund polizeilicher Vorsichtsmaßnahmen, Glück oder eigener Reaktionsschnelle diesen "mörderischen Attacken" entkommen konnten.

Diese Täter waren offenbar häufig psychisch krank (z. B. Verfolgungswahn) oder standen unter Einfluss von Rauschdrogen.

school shootings: eine neue Gefahr?

Ein Phänomen, das sich erst seit vergleichsweise kurzer Zeit zu häufen scheint, sind Verbrechen, bei denen Jugendliche an ihren eigenen oder einer ihnen bekannten Schule Mitschüler, Lehrer und anderes Personal sowie Eltern ermorden. Besonders tragische Stichworte sind Littleton/USA (15 Tote) und Erfurt (17 Tote).

So soll es zwischen 1995 und 1999 mehr Massenmorde von Teenagern gegeben haben als gesamthaft in den 40 Jahren zuvor. Auch glaubte man bisher, es handle sich um ein spezifisches Problem der USA. Die Schuld gab man der Ideologie eines Individualismus, die den freien Wettbewerb der Stärke propagiert und wenig Verständnis für individuelle Leistungsschwächen und ein Mangel an Durchsetzungsfähigkeit aufbringt. Und der dortigen freizügigen Waffenkultur.

Hier musste man allerdings umlernen. Auch stellte sich heraus, dass diese Art von Amok in den seltensten Fällen als "blindwütige Raserei" angelegt war, das heißt sich schnell und impulsiv aus einer entsprechenden Situation heraus aufbauend. Denn fast alle Täter hatten sich zuvor durchaus einige Zeit gedanklich mit dem bevorstehenden Gewaltakt beschäftigt. Bei mehr als der Hälfte ging eine mehrtätige Planung voraus. Auch die Tatsache, dass in den meisten Fällen die Opfer bewusst ausgewählt worden waren und oftmals sogar Todeslisten existierten sowie regelrechte "Hinrichtungen" praktiziert wurden, zeigt, dass die Vorbereitungsphase eher die Regel als die Ausnahme war.

So ist der Schul-Amok offenbar eine besondere Form geworden, bei der sich jugendliche Täter ausgegrenzt fühlen und sich an einer abweisenden Welt durch ein blutiges Finale rächen, in dem sie dann selber untergehen.

Welche Rolle spielen Zugang und Besitz von Waffen?

Wie gefährlich ein Mensch wird, der "zu allem fähig ist", hängt natürlich von verschiedenen Faktoren ab. Die Wichtigsten sind wohl Wesensart, Vorgeschichte, Auslöser und spezifische Situation im Allgemeinen - und Waffen im Speziellen.

Zwar leuchtet das Gegenargument der Waffen-Lobby ein: Wer an Waffen kommen will, der schafft das so oder so, selbst unter erschwerten Bedingungen.

Andererseits nimmt erfahrungsgemäß gerade beim Amoklauf die Gefährlichkeit in folgender Reihenfolge zu:

1. Als Waffen missbrauchte Gegenstände jeglicher Art,

2. die früher als traditionell geltenden Amok-Waffen wie Messer, Dolch, Speer, Machete, Schwert, Axt u.a.,

3. Schusswaffen bis hin zu Maschinenpistolen oder Handgranaten (eine besonders perfide Art von Amoklauf, da der Täter sich einreden kann, nur indirekt beteiligt zu sein, wie beim heimtückischen Bombenlegen auch) und schließlich

4. der Einsatz ganzer Waffen-Arsenale, die manche Täter ("Waffen-Narr") zur Verfügung hatten - und wohl auch in Zukunft haben werden.

Oder kurz: Waffen mögen für die innerseelische Entwicklung eines Amoklaufs keine so große Rolle spielen. Für das grauenhafte End-Resultat sind sie in der Regel jedoch von weitreichender Bedeutung.

Welche Rolle spielen die Medien?

Nicht nur in den USA, auch in Europa und nicht zuletzt in Deutschland wird nach entsprechenden Gewalttaten die Rolle der Medien kontrovers diskutiert. Immerhin weiß man schon seit geraumer Zeit, dass der wiederholte Konsum von Gewalttaten auf dem Bildschirm erhöhte Aggressionen auslösen, unterhalten und verstärken kann.

Allerdings scheint es darauf anzukommen, in welchem Zusammenhang Gewalt präsentiert wird: Aggressionen, möglicherweise noch lustvoll ausgeübt, die aber ein moralisch gerechtfertigtes Ziel im Auge haben und von einem positiv besetzten Charakter ausgeführt werden ("Held, der der Gerechtigkeit zum Sieg verhilft"), steigern die Neigung zu gewalttätiger Imitation. Stehen dagegen die negativen Folgen der Tat im Mittelpunkt und wird der Täter als zwiespältige Person dargestellt, kann dies sogar die Hemmschwelle gegenüber Gewalt erhöhen.

Deshalb sagen die zuständigen Experten: Angesichts der Flut von Gewaltdarstellungen, denen Jugendliche und sogar Kinder in ihrem mehrstündigen Fernsehkonsum alltäglich ausgesetzt sind, lässt sich hier wohl keine primäre Ursache für entsprechende Massenmorde objektivieren. Die Medien mögen eine von verschiedenen Einflussgrößen sein, doch wird man ihnen nicht die alleinige Schuld zuschieben können, sonst müssten viel mehr Gewalttaten geschehen. Denn es sind Millionen Jugendliche und sogar Kinder, die diesen zwiespältigen Medien-Einflüssen ausgesetzt sind - tagtäglich. Der größere Einfluss scheint der individuellen Neigung zuzukommen, d.h. den psychologischen Voraussetzungen im weitesten Sinne.

Problematisch scheinen dagegen jene Computerspiele zu sein (Ego-Shooter), bei denen man scheinbare Gegner niederschießen kann. Sie können in ihrer graphischen Realitätsnähe durchaus bereits vorhandene Gewalt- und Machtfantasien so ausbauen und verstärken, dass es nicht nur zu einer Bahnung, sondern auch zu einer erhöhten Treffsicherheit im realen Falle zu kommen scheint.

Und auch die Berichterstattung über Amokläufe kann natürlich einen erheblichen Einfluss auf mögliche Folgetaten ausüben. In der Selbstmord-Forschung sind solche Nachahmungs-Phänomene unter dem Begriff Werther-Effekt bekannt. Dort zeigt sich, dass die Darstellung in Film und Fernsehen von aufsehenerregenden Suiziden, vor allem in direkter Folge, zu einer Erhöhung von Selbsttötungen beitragen kann, gerade bei jungen Menschen. Und auch beim Amok scheint eine solche Verknüpfung nicht ausschließbar.

Damit bestünde die Gefahr, dass durch eine solche - medienwirksam berichtete - Tat Tür und Tor für Nachahmungs-Gewaltakte aufgestoßen wird. Die Erfahrung in den USA lässt jedenfalls Schlimmes befürchten. Vor allem junge Amokläufer, die sich mit einer solchen Bluttat zu düsterer Größe und machtvoller Bedeutung aufschwingen wollen, können auch hierzulande zu heroischen Figuren werden, die ein verlockendes Identifikationspotential bieten, gerade für ich-schwache Persönlichkeiten mit mangelnder Kompensationsfähigkeit bei ohnmächtigem Zorn, aggressiver Wut und Feindseligkeit.

Das heißt: Amokläufer, vor allem Jugendliche, dürfen weder dämonisiert noch als schicksalhaft und ohne Eigenverantwortung handelnd dargestellt werden. Vielmehr muss die ganze Zerrissenheit und Schwäche deutlich werden, die sie zu einem solchen Blutbad getrieben hat. Damit gelingt es vielleicht, wenigstens die bedrohliche Vorbildfunktion solcher Täter zu konterkarieren und die Zahl potentieller Gewalttaten zumindest einzudämmen (J. Hoffmann).

Was kann man tun?

Gibt es aus den bisherigen Bluttaten für die Vorbeugung verwertbare Schlussfolgerungen? Die Zeit drängt. Denn der Amoklauf ist ein spektakuläres Geschehen, das ein entsetztes Echo findet - weltweit. Damit ist auch eine gefährliche "Sog-Wirkung" verbunden. Die zuständigen Behörden wissen das und sind im Zugzwang. Kriminologen, Psychologen, Psychiater und Sicherheitskräfte versuchen durch Studium von Akten und Gutachten, durch Interviews mit Tatzeugen, Ermittlern und Angehörigen und sogar mit den überlebenden Tätern in den Gefängnissen zu Erkenntnissen zu kommen, die vor allem die Vorbeugung verbessern sollen.

Die Ergebnisse solcher Studien sind ernüchternd - wenngleich auch manchmal wegweisend, wenn man sich nicht auf naiv einfache Erklärungsmuster verlässt. Denn zum einen scheint es kein einheitliches Profil unter den Amokläufern zu geben, zum anderen aber finden sich immer wieder Gemeinsamkeiten, die es zu beachten gilt. Zum Beispiel dass die bisherigen Schul-Amokläufer ausschließlich männlich sind. Und umgekehrt: Die hartnäckige Behauptung, jugendliche Amokläufer kämen grundsätzlich aus "kaputten Elternhäusern" oder seien schon immer "isolierter Einzelgänger gewesen" haben sich als wohlfeile und Schnellschuss-Fehlinterpretationen erwiesen.

Es existiert also kein einheitliches Erklärungsmuster, es handelt sich um ein Tat-Puzzle, bei dem zahlreiche Faktoren zusammenspielen können - bis zur verheerenden Explosion. Und es bleibt stets ein Rest Unerklärliches zurück.

Andererseits scheint es aber auch gewisse Risiko-Marker zu geben, die zumindest bekannt sein sollten, um die größten Fehler, Unterlassungen und Fehleinschätzungen zu vermeiden. Dazu gehören folgende Fragen:

- Handelt es sich um eine narzisstische Persönlichkeitsstruktur mit krankhafter Ich-Bezogenheit und entsprechender Kränkbarkeit?

- Liegt eine geringe Frustrationstoleranz vor (gerät schnell an seine Belastungsgrenzen und reagiert dann nicht nur frustriert, sondern ggf. wütend und unkalkulierbar)?

- Finden sich plötzliche Verhaltenssprünge (scheinbar unerklärbare Änderungen in Wesensart, Auftreten und zwischenmenschlichem Kontakt)?

- Liegt ein auffälliger, auf gewalttätige Inhalte konzentrierter Medienkonsum vor (siehe später)?

- Wird im näheren und weiteren Umkreis ein krankhaft-aggressives, zumindest aber in dieser Hinsicht grenzwertiges Verhalten toleriert, wenn nicht gar propagiert ("Machos, Rambo und andere Killertypen")?

- Mangelt es an Nähe und Vertrautheit im Umfeld des Betreffenden?

- Findet sich ein (leichter) Zugang zu Waffen?

- Leidet der Betreffenden unter Depressionen mit Suizidneigung (Selbst-Aggression kann schnell in Fremd-Aggression umschlagen - und wieder zurück)?

- Wurde der Betroffene in der Vergangenheit häufig Ziel von Hohn und Spott bzw. Ausgrenzung oder Verfolgung durch Kameraden, Kollegen, Nachbarn usw.?

Was sich also immer wieder findet, ist die schon mehrfach erwähnte tiefe Kränkung, oftmals ausgelöst durch Unverständnis, Zurückweisung, Spott, Hohn, Demütigungen u.a. Auf die so erlebte Beeinträchtigung und das damit bedrohte Selbstwertgefühl reagieren dann manche mit einem Rückzug in eine Fantasiewelt, in der dann Macht und Gewalt in ausufernden Größen- und Allmachtsvorstellungen ausgelebt werden. Und kommt noch Hass hinzu, blinder Hass bei einer Wesensart, die diese zerstörerische Kraft nicht bändigen kann, dann ist auch ein unkalkulierbarer Gewaltdurchbruch nicht mehr auszuschließen.

"Hass treibt mich an. Ich bin so voller Wut. Jeder ist gegen mich. In dem Moment, in dem meine letzte Hoffnung gestorben ist, werden auch andere Menschen sterben..." (Protokoll eines jugendlichen Gewalttäters aus den USA).

Von der Gefährdungsanalyse zur Prävention?

Wir haben also einige Untersuchungsinstrumente, einige verwertbare Hinweise, einige Vorbeugungsmöglichkeiten - oder nicht? Gewiss arbeitet man weltweit an verschiedenen Gefährdungsanalysen, wie sie inzwischen von jedermann gefordert wird. Doch die sind problematisch, stellen sie doch lediglich ein qualitatives Unterfangen dar, während die individuellen Rahmenbedingungen, von der jeweiligen Persönlichkeitsstruktur ganz zu schweigen, in eine solche Gesamt-Kalkulation nicht eingehen können. Auch darf man bei entsprechender Über-Interpretation eine mögliche Stigmatisierung "verdächtiger" Personen nicht unterschätzen. Man muss also abwarten, was aus diesen Studien für den praktischen Alltag Verwertbares hervorgeht.

Und - schaurige Erkenntnis - man wird zwar nach und nach "schlauer", aber nur auf Kosten blutiger Gewalttaten (früher, heute, zukünftig). Ist man deshalb hilflos?

Nein! Denn Amok ist letztlich - da greift kein Einwand, keine Entschuldigung, keine entrüstete Reaktion - auch ein gesellschaftliches Phänomen - war es, ist es und wird es bleiben, wahrscheinlich mehr denn je. Oder breit und konkret zugleich: Amok ist vor allem eine menschliche Katastrophe, menschlich in Bezug auf den Betroffenen und menschlich in Bezug auf die Menschheit um ihn herum.

Wahrscheinlich wird niemand infrage stellen, dass der Mensch gerade in unserer Zeit und Gesellschaft für den Menschen nicht allzu viel übrig hat (Stichwort: "lächelnder Ellenbogen"). Dies besonders dann, wenn es sich um Mitmenschen mit begrenzten seelischen, geistigen und körperlichen Gaben handelt, die aufgrund äußerer Bedingungen und mangelnder Unterstützung bald zu den Erfolglosen, Versagern und damit Ausgegrenzten gehören werden.

Erst wenn es zu erschreckenden Konsequenzen kommt, seien es Suizid oder Gewalt gegen andere, beginnt man nachzudenken. Aber auch dies nur kurzfristig, denn mittelfristig hat man eigene Sorgen und langfristig ist die so genannte "Halbwertszeit des Vergessens" besonders kurz.

Doch wenn es auch bisher keine harten Daten gibt, so wiederholt sich dennoch immer wieder ein halbwegs typischer Kern an Defiziten und charakteristischen Verhaltensweisen. Dabei fallen am häufigsten die Fachbegriffe: seelische Instabilität, gehäufte psychosoziale Misserfolge (die dann vor allem den anderen zur Last gelegt werden, weil auch noch die Fähigkeit zur "Innenschau" mangelhaft angelegt ist) sowie schließlich tiefsitzende Minderwertigkeits- und Schamgefühle mit entsprechenden Folgen, von der still-leidenden Frustration bis zur explosions-gefährlichen Hass-Entwicklung.

Das ist die Basis. Was dann den scheinbar entscheidenden Auslöser abgibt, bleibt sehr individuell und kann zuvor nicht immer abgeschätzt werden. Doch das was sich zuvor zusammengebraut hat, schon eher - sofern man daran zu denken gewillt ist.

Der Amok-Läufer tötet andere - und dann meist sich selber. Der Selbstmörder tötet sich selber (und manchmal zuvor wohl auch andere - aber nur in seiner oft wütend-verzweifelten Fantasie). Für Selbstmörder gelten zwei nachdenkenswerte Sätze:

1. Selbstmörder ist man lange, bevor man Selbstmord begeht.
2. Selbstmord, das ist die Abwesenheit der anderen.

Die Frage lautet, ob man aus diesen beiden Mahnungen auch etwas für Amokläufer ableiten kann - rechtzeitig (Prof. Dr. med. Volker Faust).

Wenn Sie mehr über das Thema Amok wissen wollen, sehen Sie sich doch einmal den entsprechenden Beitrag in Psychiatrie heute dieser Internet-Serie an.

Bei allen Ausführungen handelt es sich um allgemeine Hinweise.
Bei persönlichen Anliegen fragen Sie bitte Ihren Arzt.
Beachten Sie deshalb bitte auch unseren Haftungsausschluss (s. Impressum).